Es liegt mir besonders am Herzen zu Beginn darauf hinzuweisen, dass aufgrund mancher Äußerungen von mir der Eindruck entstehen kann ich könnte meinen schon immer alles besser gewusst zu haben. Dem ist nicht so. Einerseits ist man immer hinterher schlauer und ich habe dieses hinterher oft erlebt und dumm aus der Wäsche geschaut, und andererseits kann sich ein hörender Mensch wegen des Besitzes dieser Fähigkeit nur begrenzt vorstellen wie es ist nicht mehr zu hören. Bei Gleichgewichtsstörungen dachte ich mir schon 2003, dass man sich diese als ein in jener Hinsicht gesunder Mensch überhaupt nicht vorstellen kann. Manche Dinge muss man erst am eigenen Leib erleben bevor man sie richtig einschätzen kann. Es handelt sich also nicht um Besserwisserei sondern um Erfahrungswerte. Außerdem sagte ich mir bei Lektüre des Textes des Öfteren "So hast du früher auch gedacht".
An einem frühen Sonntagabend im November 2002 war ich nach frühzeitigem Verlassen meiner Stammkneipe zu Hause irgendwann umgefallen, hatte das Bewusstsein verloren und wachte erst einen Monat später in einem Krankenhaus wieder auf. Mein Gehör war weg und eine Hälfte meines Gesichtes fühlte sich taub und wie ein Fremdkörper an, ähnlich wie nach einer Betäubungsspritze beim Zahnarzt. Zuerst fragte ich mich was geschehen, wie ich an diesen Ort gekommen war, bis sich mir durch die Informationen mich besuchender Menschen ein sehr wahrscheinliches Bild des vergangenen Ablaufes zusammenfügte. Offenbar war eine verschleppte Erkältung in eine bakterielle Meningitis umgeschlagen, hatte zu einer Hirnblutung und diese zu zwei Schlaganfällen geführt. Nachdem ich nach Einlieferung in eine Notfallklinik zuerst totgeschrieben worden war, dann mittels des Zeigen eines Stinkfingers die Ärzte über die Vorschnelligkeit ihres Urteils informierte, ( Labermeia: Jaja, durch über zwei Jahrzehnte Punkrock sind gewisse Gesten anscheinend sehr tief verinnerlicht worden…) wurde ich in die Intensivstation verfrachtet, lag sechs Tage lang im Koma und wurde dort vier Wochen lang künstlich beatmet.
Zu Beginn des Monats Dezember hatte sich mein Zustand soweit gebessert, dass ich in ein anderes Krankenhaus verlegt werden konnte, jenes in der zu Anfang des neuen Jahres eine Rehabilitationsmaßnahme beginnen sollte für deren Teilnahme ich vorgesehen war. Ich kam in eine sogenannte Frühreha, einer speziellen Abteilung für spätere Reha-Teilnehmer die von einem anderen Krankenhaus in dieses verlegt worden waren, die zwar keine akuten Notfälle mehr, aber immer noch zu behandlungsbedürftig waren um eine zwischenzeitliche Entlassung zu gewähren. Als ich dort zu ersten Male selbsttätig mein Bett verließ um einen wenige Meter entfernt stehenden Rollstuhl zu erreichen wollte ich wie gewohnt einige Schritte gehen, fühlte mich in aufrechter Haltung so unsicher wie noch nie (Kein Wunder. Oft wird Gleichgewicht als "körperliche Sicherheit" bezeichnet), verlor aber sofort das Gleichgewicht und fiel zurück auf das Bett. Offensichtlich war auch das Gleichgewicht beschädigt und dadurch die Fortbewegungsart "Gehen" aus meinem Leben verschwunden. (Meine Gleichgewichtsstörungen zu beschreiben ist sehr schwierig. Ich versuche es hier trotzdem einmal:)
Einige
meiner Mitpatienten wurden künstlich ernährt, andere verharrten in einem völlig apathischen Zustand. Und mittendrin befand sich mal wieder meine Person, gefangen in einer Blase der Lautlosigkeit und alleine mit meinen bohrenden Gedanken. Oft fragte ich mich in welchem Film ich hier gelandet sei, denn noch vor wenigen Wochen konnte ich laufen und hören, hatte mein Hobby zu meinem Beruf gemacht, stand vor dem Abschluss meiner zweiten Berufsausbildung, spielte in einer Band, war Mitherausgeber eines Fanzines, fühlte mich in einer beginnenden Phase des Aufschwungs und schmiedete beständig Pläne für die unmittelbare Zukunft. Außerdem war es hier sehr merkwürdig. Dinge wie spiegel- und toilettenlose Krankenzimmer oder ein penibel beachtetes Essverbot (außerhalb der offiziellen Mahlzeiten natürlich) hatte ich noch nie in irgendeinem Krankenhaus erlebt.