Notfällen die Partnerin/der Partner oder die Familie helfen. Da ich aber keine Partnerin oder Familie habe stand ich damals oft alleine vor großen Schwierigkeiten, musste sie selbst bewältigen. Außerdem hat die offizielle Hilfe einen entscheidenden Nachteil: Sie ist nur in den Dienstzeiten verfügbar, am Wochenende steht man wieder alleine da. Solche Situationen erlebte ich öfter. Eine kleine Störung die für einen Menschen mit gesundem Gleichgewicht völlig banal ist, konnte für mich nun zu einem unlösbaren Problem werden. Als ein gutes Beispiel dient das Auswechseln einer Glühbirne an der Decke. Dies ist mir unmöglich, und manchmal saß ich tagelang im Dunkeln bis ich jemanden fand der Zeit hatte eine neue Glühbirne anzubringen. Ich möchte nicht für die Hilfe durch Privatpersonen und gegen die offizielle Hilfe sprechen, das meine ich nicht. Beide Varianten besitzen Vor- wie auch Nachteile, es ist nur ein Fehler sich auf eine einzige der beiden Möglichkeiten zu beschränken, eine Kombination beider ist besser.
   Auf alle Fälle führte der Besitz eines Hörgerätes dazu, dass mir viele mir vorher unbekannte Mitmenschen respektvoller gegenübertraten. In der sozialen Auswirkung besteht ein Riesenunterschied zwischen "gehörlos" und "extrem schwerhörig". Oft kam ich mir in der Vergangenheit ignoriert vor, oft erweckte ein anderer Mensch den Eindruck in mir sich überlegen zu fühlen, wie jemand der über größere mentale Fähigkeiten verfügt weil er im Gegensatz zu mir in der Lage war akustische Informationen zu verarbeiten. Selbst wenn man nur noch ein winziges Bisschen hören kann ist dies gewaltig anders. Warum das so ist weiß ich nicht. Vielleicht wird dadurch leichter ersichtlich, dass meine verbale Kommunikationsunfähigkeit nicht auf eine geistige Minderbestückung sondern auf ein reines Empfangsproblem zurückzuführen ist.

Direkt nach meinem Krankenhausaufenthalt umtrieben mich mitunter starke Selbstzweifel. Da die Erkrankung im Gehirn gewirkt hatte, wusste ich nicht ob von mir wahrgenommene und als negativ beurteilte Ereignisse in Wirklichkeit eher normal oder positiv waren, das negative Urteil nur einem geschädigten Gehirn entsprang.
Da ich nie eine Diagnose bekommen hatte (wenn normale verbale Kommunikation möglich gewesen wäre hätte mir ein Arzt sicherlich meine Fragen beantwortet. Aber so… Antworten wären höchstens schriftlich möglich gewesen, und langes Schreiben von ständig gehetzten und unaufhörlich unter Zeitdruck stehenden Ärzten zu erwarten ist illusionär) wusste ich lange Zeit nicht was eigentlich mit mir los war. Alles was ich bisher weiß beruht auf einem Mix aus Informationshäppchen, Erkenntnisse aus langen Selbstbeobachtungen, Informationen aus dem Internet und Vermutungen. Im Laufe der Monate formte sich daraus ein der Realität sehr nahe kommendes Bild. Aber schon Ende des Jahres 2003 waren diese Zweifel verschwunden. Eigene Eindrücke, Worte anderer Menschen und Urteile von Fachleuten bestätigten meinen Meinung, dass sich die Krankheit lediglich auf die körperlichen Fähigkeiten ausgewirkt hatte, mein Verstand und meine Wahrnehmung unbeeinträchtigt und wie früher waren. Auf gut Tresendeutsch gesagt: Ich konnte Scheiße immer noch als Scheiße erkennen. Dennoch fragte ich mich in den ersten zwei Jahren öfter, ob sich durch die Erkrankung meine früher gute Menschenkenntnis erheblich reduziert hatte. Dem war aber nicht so. Sie hatte nur zu einem sehr großen Teil auf akustischen Informationen wie dem Tonfall oder der Übereinstimmung von Gesagten und Körpersprache basiert, und da dieses nun wegfiel entstand der Eindruck einer sehr geringen Menschenkenntnis. Mittlerweile glaube ich aber, dass sie wieder besser geworden ist, ich mich daran gewöhnt habe noch viel genauer als vorher Menschen zu beobachten.
   Unmerklich veränderte sich auch mein Denken. Durch die Erkrankungsfolgen gewann mein mir angeborener Optimismus an Bedeutung, sorgte für eine leichtere Lösung der zu teilweise großen Schwierigkeiten mutierten Kleinigkeiten des täglichen Lebens, ließ auch die Gedanken an mein Schicksal und den Rattenschwanz von Folgeproblemen leichter ertragen. Ich glaube, dass so mancher Mensch der sich plötzlich in einer ähnlichen Lage wie der meinigen wiederfindet (von einem Tag auf den anderen mehrfach behindert, immer noch alleine und keine reelle Aussicht mehr diesen Zustand jemals ändern zu können, fast alle Pläne für das eigene Leben hinfällig geworden, und und und) resigniert und sehr viel Lebenszeit damit verschwendet wehmütig in die Vergangenheit zu schauen. Das war bei mir aber nie der Fall. Dank der optimistischen Sichtweise blickte ich automatisch stets nach vorne, pflegte Probleme nicht als unüberwindbare Hürden, sondern als Herausforderungen bei deren Lösung ich mich beweisen konnte anzusehen. So akzeptierte ich den Istzustand recht schnell und beschloss verstärkt meiner Leidenschaft des Erzählens von Geschichten zu frönen. Als erstes schrieb ich einige in der Vergangenheit angefangene und nie vollendete Geschichten zu Ende, ein Vorhaben, dass ich ohne die Erkrankung höchstwahrscheinlich nie durchgeführt hätte. Eine weitere große Hilfe mit allem fertig zu werden war mir auch mein Humor. Oft ärgerte ich mich nur wenige Minuten über irgendeine neue Schwierigkeit, amüsierte mich aber kurz danach über deren befremdliche Umstände und nahm eine Lösung in Angriff.
   Schon nach wenigen Jahren hatte ich im Rückblick auf die Zeit vor der Erkrankung oft das Gefühl, früher ein mit Scheuklappen durch die Gegend laufender Mensch gewesen zu sein, der nicht die innewohnenden Schwierigkeiten in als banal angesehenen Dingen sah und für den eine rasche Lösung dank der eigenen Fähigkeiten selbstverständlich war. Dieses Urteil basierte nicht auf rein gedanklichen Erinnerungen, sondern auf der Lektüre vor mir in den verschiedenen Jahren geschriebenen Texten. Da ich die seit geraumer Zeit die Angewohnheit pflege sporadisch meine Gedanken in kleinen Artikel oder Berichten aufzuschreiben kann ich nachlesen was ich in jenem Jahr dachte, und noch meine 2003 oder 2004 geschriebenen Texte erscheinen mir heutzutage oft so, als wären sie von einem anderen Menschen verfasst worden.
   Zum Schluss dieses Textes möchte ich ein treffendes Zitat von Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker anführen, der einst sagte:
"Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann."