Das normale menschliche Gleichgewicht ist von seiner Spannbreite her mit einem Zirkel mit dem man einen großen Kreis zeichnen möchte zu vergleichen. Nur wenn man sich ohne seinen Schwerpunkt zu verlagern so weit bewegt, dass eine Bewegung über den eingestellten Radius herausragt, verliert man das Gleichgewicht und fällt (zum Beispiel wenn man sich in aufrechter Haltung immer weiter nach vorne beugt ohne seinen Standpunkt zu ändern), innerhalb dieses Durchmessers sind alle Bewegungen kein Problem. Sämtliche normalen menschlichen Bewegungen liegen innerhalb dieses Rahmens, sind also ohne jegliche Schwierigkeiten durchzuführen. Durch meine Erkrankung hat sich meine Gleichgewichtsspannbreite dramatisch reduziert, so als ob die Zirkelbeine eng beieinander stehen weil man einen sehr kleinen Kreis zeichnen möchte. Alle für das Gehen notwendigen Bewegungen ragen nun über den eingestellten Radius hinaus, und fast jede Bewegung die früher ohne Probleme durchgeführt werden konnte führt nun zu einem Fall.
Aus diesem Grunde funktioniert Laufen ohne Rollator nicht, zumal in aufrechter Haltung fast jede größere Bewegung (zum Beispiel ein Schritt) mit einer Verlagerung des körpereigenen Schwerpunktes vom Ballen auf die Ferse eingeleitet wird. An diesem Punkt muss ich besonders aufpassen, denn wenn sich mein Schwerpunkt einen Tick zu weit rückwärts verlagert verliere ich das Gleichgewicht und falle nach hinten. Früher sind mir diese Kleinigkeiten nie aufgefallen, erst recht dachte ich nie an sie. Wenn ich unterwegs war dachte ich an das Ziel, nicht an die Schwierigkeiten der Wegbewältigung. Jetzt ist dies anders, der Weg beherrscht die Gedanken. Im ersten Jahr nach der Erkrankung bin ich oft gefallen, im Jahr danach merklich seltener und heutzutage kaum noch. Ich vergleiche das Erkennen von potentiellen Sturzsituationen mit dem Motorradfahren. Hierbei kommt man oft in Situationen die zu einem Sturz führen würden wenn man nichts unternimmt oder falsch reagiert. Durch Erfahrung erkennt man solche Situationen frühzeitig und man leitet rechtzeitig die richtigen Gegenmaßnahmen ein, so dass es nur noch in seltenen Fällen zu einem wirklichen Sturz kommt. Beim Gleichgewicht ist es ähnlich.
Die reduzierte Gleichgewichtsbandbreite fällt am meisten in aufrechter Körperhaltung auf und hat dort die sichtbarsten Auswirkungen. Aber man muss nicht erst stehen um mit den Gleichgewichtsstörungen konfrontiert zu werden. Im ersten Jahr nach meiner Erkrankung saß ich einmal an dem extra gedeckten Frühstückstisch. Ich wollte einen weiter entfernten Gegenstand greifen, beugte mich nach vorne und vergaß dabei mich an der Tischkante festzuhalten. Die Oberkörperbewegung des Nachvornebeugens ragte ebenfalls über die verbliebene Gleichgewichtsspanne hinaus und bewirkte, dass ich mit Oberkörper und Kopf auf den Tisch fiel, wie ein Volltrunkener an einem Kneipentresen.
Aber auch im liegenden Zustand kann man schnell in den "Genuss" solcher Auswirkungen kommen. Mehrmals wurde ich in meiner alten Wohnung von der Matratze im Schlaf aus dem Bett geworfen und fand mich auf dem Fußboden vor dem Bett wieder. Also hatte ich mich im Schlaf unkontrolliert umgedreht, etwas das ich nur mit voller Konzentration und im wachen Zustand machen durfte um nicht aus dem Bett geworfen zu werden. Die Ursache ist die durch das Körpergewicht an der Auflagestelle zusammengedrückte Matratze. Verlagert sich das Gewicht, lässt der Druck nach, die Matratze kehrt dabei in ihre ursprüngliche Form zurück und gibt die gespeicherte Energie ab. In so einem Fall fühle ich mich wie kräftig gestoßen und wurde wenn ich mich nicht vorsorglich festgehalten hatte aus dem schmalen Bett katapultiert. Wie bereits gesagt ist mir dies mehrmals passiert, immer wenn ich mich nicht festhielt, also immer nur im Schlaf. Um dies zu vermeiden schlief ich viele Jahre lang nur auf einer Seite liegend und hoffte darauf mich im Schlaf möglichst nicht zu bewegen. Meist klappte dies. Durch meinen Umzug in eine größere Wohnung konnte wenigstens dieses Problem gelöst werden. Endlich hatte ich mehr Platz, endlich konnte ich mir ein größeres Bett kaufen und endlich wieder gefahrlos schlafen. Sich ohne Sturzgefahr einfach so umdrehen zu können war ein völlig neues Lebensgefühl, echt.
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