Zwischen den wie rasant vorbeihuschenden Baumwipfeln war ein fastdunkler Abendhimmel zu sehen, eine Firmamentfärbung wie sie typisch für eine in wenigen Minuten einsetzende Dunkelheit der Nacht war. Vereinzelte Wolken, die im hellen Tageslicht weißlich und unauffällig gewirkt hätten, erschienen nun aufgrund der Lichtminderung weitaus dunkler als der Hintergrund, wirkten dadurch bedrohlich und erzeugten ein Gefühl der Angst. Zudem erweckten sie den Eindruck einer sich unaufhaltsam verflüchtenden Atmosphäre und man glaubte bei einer näheren Betrachtung der schwarzen Flecke direkt ins Weltall blicken zu können.
   Aber dennoch blieb ich relativ gelassen, da einerseits in den von mir täglich verfolgten Nachrichtensendungen ein bevorstehender Weltuntergang mit keinem Wort erwähnt worden war und ich andererseits um die Normalität derartiger Wahrnehmungen nach dem Konsum von THC wusste.
   »Oh man«, sagte der neben mir auf dem Platz des Fahrers sitzende Sven und bewies mir damit ähnlich zu empfinden wie ich. Seine Hände hielten das Lenkrad fest umklammert, die Fingerknöchel traten weißlich hervor. Er saß nach vorne gebeugt und etwas verkrampft wirkend hinter dem Steuer, und so als wolle er alles genau sehen, war seine Nasenspitze höchstens zwanzig Zentimeter von der Windschutzscheibe entfernt.
   Natürlich wusste ich nicht welche Bilder sein Gehirn im Moment dem geistigen Auge vorspielte, konnte mir aber gut vorstellen, dass die Fahrgeschwindigkeit von etwa 70 km/h als eine weitaus größere empfunden wurde oder er sich wie ein Teilnehmer eines Autorennens vorkam. Eigentlich kannten wir die Strecke genau, hatten ein jeder diesen Weg viele dutzend Mal zurückgelegt, und das kleine, von einer Schnellstraße durchzogene Waldstück sollte keine Überraschung für uns darstellen.
   Aber heute war alles anders, die sattbekannte Umgebung wirkte wie ein noch nie gesehener Geländeabschnitt und Sven schien sich nichts sehnlicher als eine baldige Erreichung von Sunnys Wohnung zu wünschen.
   Ich schaute durch die Windschutzscheibe, sah unglaublich schnell an mir vorbei ziehende Bäume. Die Straße jagte mir entgegen und ich kam mir vor als säße ich vor dem Bildschirm eines Videospiels, bei dem sich man aus eigener Perspektive schauend übernatürlich schnell durch die Landschaft bewegte. Der Gedanke an das Betrachten eines interaktiven Films setzte sich in meinen Hirnwindungen fest, ich glaube in der rechten unteren Ecke der Windschutzscheibe einen leuchtenden Scorer zu sehen der Auskunft über den aktuellen Punktestand gab.
   Während ich hinausstarrte erfüllten mich erneut fast unmenschliche Hungergefühle. Zwar wusste ich genau, dass diese durch das Haschisch stärker wirkten als sie in Wirklichkeit waren, ich erst heute Mittag reichlich Eintopf gegessen hatte und deshalb keine Angst vor einem urplötzlichen Hungertod haben müsste, aber trotzdem wollte ich das Verlangen nach Nahrung möglichst sofort befriedigen.
   Mir fielen die Flips in der am Boden liegenden Tüte ein, ich strich meinen Vorsatz sie erst später essen zu wollen ersatzlos, griff zu dieser und öffnete sie heißhungrig. Wie ein Halbverhungerter vergaß ich schlagartig beim Anblick von Nahrung jegliche anerzogene Zurückhaltung, nahm direkt ein große Handvoll Flips und schob sie mir in den Mund. Sie schmeckten weitaus besser als ich es in Erinnerung hatte. Ich lobte mich im Geiste für meinen Entschluss sie sofort zu essen, in einer Phase in der meine Geschmacksrezeptoren wie aufgedreht wirkten und jede Empfindung in mehrfacher Intensität dem Gehirn übermittelten. Mit vollem Mund kauend griff ich gierig immer und immer wieder in die klagend knisternde Tüte, konnte aufgrund des köstlichen Geschmacks einfach nicht aufhören für dessen Fortführung zu sorgen.
   Nach zwei mir wie zwanzig vorkommenden Minuten war die Tüte halbleer und ich fühlte mich dennoch nicht im Geringsten gesättigt, war noch genauso hungrig wie in jenem Moment als ich sie öffnete. In der Hoffnung auf ein baldiges und zumindest ansatzweise bemerkbares Sättigungsgefühl beschloss ich die Tüte auf der Stelle leer zu essen, wies alle Aufbewahrungspläne weit von mir.
   Intensiv und mit vollen Backen kauend blickte ich erneut durch die Scheibe.
   Der Anblick hatte sich geändert, anstatt Bäumen huschten nun Häuser vorbei.
   »Oh man«, dachte ich und griff zu einer weiteren Handvoll Flips.

      …    

Ich stand direkt neben Michelle vor einer Bühne, auf der lediglich ein hinter seinen Drums sitzender Schlagzeuger zu sehen war. Nur ein überlautes, immer wieder kehrendes dumpfes Geräusch war zu hören, welches eindeutig von der Bassdrum stammte. Jener Ton sollte dazu dienen die Abnahmelautstärke des in der Trommel liegenden Mikrophons zu justieren, eine regulierende Vorarbeit die nötig war damit die Band nachher bei dem Zusammenspiel aller Instrumente einen angenehmen Klang produzieren konnte und keines überlaut hervortrat.
   Einem inneren Drang folgend schaute ich Michelle an, die ähnlich wie ich empfand und mich ebenfalls anblickte. Wie ein heller Kranz umgaben die frisch nachblondierten Haare ihren Kopf und sie – deren Anblick auch nach einer von ihr durchzechten Nacht oder einem ungeschützten Gang durch ein Unwetter eine ständige Augenweide für mich war – sah dadurch besonders gut aus.
   Aber wie so oft faszinierten mich ihre braunen Augen und ihre Art zu schauen am meisten. Erneut erschien es mir als würden diese Pupillen ihre vorherrschende Emotion widerspiegeln, und da ich in der Vergangenheit schon des Öfteren mehr als nur flüchtig in so manches weibliches Augenpaar geblickt hatte, wusste ich um die Seltenheit jenes Effekts. Dieser hatte sich allerdings in den letzten zwei Wochen verändert. Seitdem wir uns fast jeden Tag sahen, und auch wenn der andere Mensch nicht anwesend war dennoch ständig mit dem Gefühl diesen an der Seite zu wissen dem Tagwerk nachgingen, konnte ich erstaunlicher Weise in ihren Augen keine Spur von Traurigkeit mehr erblicken, drückten sie stattdessen freudige Erregung aus.
   Plötzlich verspürte ich brennenden Durst und wortlos reichte sie mir ihre Flasche Bier. Immer wieder erstaunte es mich in ihrer Anwesenheit nur an einen leicht erfüllbaren Wunsch zu denken, ihn nicht aussprechen zu müssen, und so als könne sie meine Gedanken lesen erkannte sie stets mein Begehren und handelte zu meiner Freude direkt und folgerichtig.
   Rasch nahm ich einen Schluck des belebenden Getränks, betrachte dabei die schön geschwungenen Lippen ihres breiten Mundes, fand diese anziehend und auffordernd zugleich und in mir entstand der Wunsch diese Lippen küssen. Einen Moment lang wunderte ich mich ein wenig darüber da ein Verspüren dieses Verlangens erst wenige Minuten her war, es aber trotzdem in einer scheinbar nie enden wollenden Intensität und in so kurzen Zeitabständen wie ich sie noch nie erlebt hatte auftrat, wir diesem Wunsch mehrmals in einer Stunde durch mehr oder weniger lange Küsse nachgaben.
   Ich stellte die Bierflasche auf den Bühnenrand und nahm sie in die Arme, genoss das Gefühl sie zu spüren. Gleichzeitig schaute ich in ihre Augen, sah Aufforderung und Erwartung zugleich und presste meine Lippen auf die Ihrigen.
   Sofort öffnete sie leicht den Mund, ich reagierte ebenfalls derartig und unsere Zungen fanden sich. Teils zart, teils nachdrücklich fordernd berührten sie einander, und ich hatte durch ihr kraftvolles Zungenspiel den Eindruck als wolle sie auf diese Art spielerisch die eigene Stärke beweisen.
   Anscheinend bedeckten abertausende Nervenzellen meinen Körper, die als sie sich an mich presste alle eine äußerst angenehme Empfindung an das Gehirn meldeten, ein Gefühl dessen endlose Fortsetzung ich mir wünschte.
   Michelle genoss die Berührung genauso wie ich, was durch ihren Gesichtsausdruck leicht erkennbar war. Der Kuss wurde immer inniger, schien nicht enden zu wollen, da weder Michelle noch ich für ein Ende des Genusses verantwortlich sein wollten.
   Während wir uns küssten und ich mich an der Süße ihres Mundes labte, schien die Bassdrum immer lauter zu werden, übertönte alle anderen Geräusche und dominierte mein Bewusstsein…

   

Schlagartig verblichen alle Empfindungen.
   Die Wahrnehmung schaltete sich ein, riss mich aus der angenehmen Welt der Traumbilder und konfrontierte mich unsanft mit der Realität.
   Michelles warmer Körper verschwand, das neckische Spiel unserer Zungen schrumpfte auf das Niveau einer bruchstückhaften Erinnerung und das Stimmengemurmel im Hintergrund verklang. Übrig blieb nur das laute und dumpfklingende Geräusch welches ich auch im wachen Zustand deutlich hörte. Allerdings hatte es sich gewandelt, aus dem abgehakten Stampfen war ein gedämpft klingendes Pochen geworden, ähnlich wie dem wenn ein schwerer Gegenstand beständig auf eine gepolsterte Oberfläche geschlagen wurde.
   Die altbekannte Fragestellung »Wer bin ich wo?« erwuchs zu dem am dringendsten nach einer Antwort verlangenden Informationswunsch und ich schlug die Augen auf. Sofort stellte ich fest mich nicht in meiner eigenen Wohnung zu befinden.
   Statt auf der heimischen Matratze lag ich halb zusammengerollt auf einem Sessel. Die direkte Umgebung war nur schemenhaft zu erkennen und als ich ein Sofa mit einer darauf schlafenden Gestalt sah erinnerte ich mich an die jüngste Vergangenheit.
   ´Ich bin wohl noch bei Sunny, in ihrem Wohnzimmer´, sinnierte ich. ´Gestern war doch diese kleine Fete, und irgendwann einige Stunden nach Mitternacht und als das Bier alle war, gingen immer mehr Leute, bis wir vielleicht noch zehn Gestalten waren. Einige von ihnen legten sich auf den Boden oder ratzten einfach dort weg wo sie gerade saßen… Ich scheinbar auch… Aber der Typ auf dem Sofa ist doch Lalutsch, der Lange aus dem einen Kaff… Wie hieß das noch?... Hempelhohn?... Nasendorf?... Nee, glaube ich nicht… Ist aber auch egal, jedenfalls saß er vorher nicht auf dem Sofa, dort hingen doch die ganze Zeit Sunny und Michelle herum… Ah, jetzt fällst mir ein, irgendwann stand Sunny auf, und Michelle und Hexe und die eine Alte auch, die wollten alle bei Sunny im Zimmer pennen und nicht hier… Schade, ich hatte mich schon darauf gefreut zusammen mit Michelle die ganze Nacht hier zu sitzen… Dann wäre ich bestimmt wach geblieben und nicht irgendwann weggetreten… Als sie zur Tür gingen legte sich Lalutsch sofort auf das Sofa und streckte sich aus… Der war wohl auch mächtig müde… Verständlich, es war ja schon recht spät und den ganzen Abend Bier trinken ist auch recht anstrengend…

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