© Meia 2008, veröffentlicht in "Pankerknacker" 2008
Abgedruckt in meinem Buch "Jahrzehnt der Wechseljahre"

   

Letztens war ich im »Erosion«…«, sagte der junge Mann mit den strubbeligen blonden Haaren und schaute mich an.
   »Das ist doch die Metalkneipe direkt in der Fußgängerzone?«, fragte ich.
   »Genau«, erwiderte der Sprecher namens Hannes, der aufgrund seiner Frisur und der mit Bandnamen und glitzernden Nieten geschmückten Lederjacke schon rein optisch als Punk erkennbar war. »Warst du da schon einmal? Dann müsstest du den Laden kennen, der hat ja vorne statt einer Eingangswand so große Scheiben, so kann man direkt hinaus schauen, jederzeit, obwohl es nachts in der Fußgängerzone wirklich selten etwas zu sehen gibt. Praktisch passiert da kaum etwas, nur ab und zu geht ein Pärchen oder ein Besoffener vorbei… Jedenfalls saß ich da direkt am Eingang, es war so gegen Mitternacht, und schaute aus dem Fenster. Plötzlich gingen fünfzehn bis zwanzig junge Männer vorbei. Alleine diese Tatsache war schon etwas komisch, nachts ist die Einkaufszone ja ziemlich tot, man kann höchstens Gruppen von vier oder fünf Menschen sehen, aber nie so viele Leute… Und obwohl sie alle total unauffällig angezogen waren, ganz normal aussahen, keine Punks oder Glatzen oder Rocker oder so waren, wirkten sie dennoch irgendwie auffällig. Einige von denen sahen recht grimmig aus und die gesamte Gruppe erweckte den Anschein etwas zu suchen.«
   »Das war bestimmt die Antifa…«, entgegnete ich. »Die suchten Skinheads oder irgendwelche Faschos.«
   »Kann gut sein. Aber ich dachte, dass die Antifa hier in Siegburg nur aus vielleicht einem halben Dutzend Leuten bestünde und das waren merklich mehr…«, formulierte mein Gegenüber eine indirekte Frage.
   »Das stimmt schon, sind eigentlich nur eine Handvoll Leute, aber wenn was angesagt ist, irgendwo eine Faschofete oder ähnliches ist, können sie auch schnell Verstärkung aus Bonn bekommen. Die kennen sich ja alle untereinander, und die Bonner sind wirklich krass, die haben die Skinheads richtig aus der Innenstadt geprügelt.«
   »Echt. Wenn ich zurückdenke… Vor drei oder vier Jahren konnte man als Punk dort nicht mehr durch die Fußgängerzone gehen, das hätte mit Sicherheit Ärger mit irgendwelchen Glatzen bedeutet und übelst Haue gegeben. Der Aaron, der aus Hennef, ist einmal dort am Bahnhof gewesen…«
   »Letztens wurde hinten an der Bahnhaltestelle Jomo-Markt eine Punkfrau von Skinheads bewusstlos geschlagen. Also ich meine, wer als Punk oder klar erkennbarer Linker dort rumläuft muss mit so was rechnen…«, unterbrach Ricardo ihn.
   Er sah zwar nicht wie ein Punk aus, wirkte mit seinen langen Haaren und seinem seit mehreren Tagen unrasierten Gesicht wie ein überzeugter Anhänger des Heavy Metal, aber sein T-Shirt wies auf eine Nähe zur Punk- und Hardcoreszene hin. Es zeigte das Bild eines etwa dreizehn- oder vierzehnjährigen Jungen, der ähnlich wie die Romanfigur Karlsson vom Dach eine propellerbewehrte Kopfbedeckung trug und ein Zeichen der angesagten amerikanischen Hardcoreband "Rich Kids on L.S.D." war.
   »Davon hörte ich auch…«, sagte ich. »Die Frau kenne ich, das war die Anette, die wohnte doch mal da in der Nähe. Also müsste sie doch wissen, dass der Jomo-Markt seit Jahren ein bekannter Glatzentreffpunkt ist…«
   »Man müsste dort mal hinfahren und ein bisschen aufräumen, so mit vielen Leuten…«, überlegte Ricardo laut.
   »Einmal hinfahren und die Glatzen wegboxen ist auch nicht das Wahre…«, erwiderte Hannes. »Am nächsten Tag treffen die sich dort wieder, für die Faschos bleibt alles wie es war und die ganze Aktion wäre auf Dauer gesehen nur ein bedeutungsloses Intermezzo.«
   »Das stimmt, so gesehen bringt es wenig. Aber wenn man jede Woche einmal hinfährt und die Faschos verhaut bewirkt das schon etwas… Haben die Bonner ja vorgemacht… Irgendwann werden sich die Glatzen dort nicht mehr treffen wollen weil sie wissen, dass das heftige Schläge bedeuten könnte. Und im besten Fall hätte der ein oder andere dann überhaupt keinen Bock mehr auf den Nazikram…«
   »Langsam wird das mit den Glatzen echt eine Seuche, da müsste man schon mal was machen…«, meinte Hannes nachdenklich zu mir. »Zum Beispiel muss ich immer wenn ich zum Bäcker gehe aufpassen ja keinen Faschos zu begegnen, schließlich will ich frühstücken und nicht ins Krankenhaus. Schon zweimal bin ich dabei Grünjacken begegnet und musste ordentlich den langen Schuh machen, jedes Mal Schwein gehabt und wegkommen. Einmal…«
   Die gehörte Intensität seiner Stimme reduzierte sich, wurde automatisch zu einem nur nebenbei wahrgenommenen Hintergrundmurmeln, als ich mich nach vorne beugte, meine Zigarette in einem übervollen Aschenbecher ausdrückte und dabei die in einigen Metern Entfernung sitzende Michelle ansah. Wie so oft in den letzten Monaten faszinierte mich ihr Erscheinungsbild, der Gegensatz zwischen dem attraktiv wirkenden Äußeren und der etwas melancholisch oder traurig wirkenden Mimik.
   So manch anderer Mann hätte sie nicht als auffallend hübsch bezeichnet, auf den groß wirkenden Mund und das gegenüber dem beständig in der Werbung gezeigten Schönheitsideal zu breitflächig wirkenden Gesicht hingewiesen.
   Außerdem unterschied sie sich von den meisten Frauen durch ihren Kleidungsstil und den völligen Verzicht auf Schminke und ähnlicher nachträglicher Erscheinungsbildverbesserungen. Zudem bevorzugten fast alle Frauen die ich kannte eng anliegende Kleidung die ihre Reize hervorheben und betonen sollte, so als wollten sie damit verstärkt die Blicke der Männer auf sich ziehen. Nicht so Michelle.
   Sie trug meistens weite, etwas schlabberig wirkende Oberbekleidungsstücke, die ihre Formen nicht verdeutlichten sondern sie eher versteckten und bewusst den Blicken der Männer entzogen. Zwar zeichneten sich ihre Brüste erkennbar unter dem weit geschnittenen Sweat-Shirt ab, aber dennoch konnte die Form der frei schwingenden Halbkugeln unter dem dunkelblauen Stoff nur erahnt werden.
   Dabei konnte sie stolz auf ihren Busen sein. Durch einige verstohlene Blicke in der Vergangenheit (von denen ich hoffte, dass Michelle sie nicht bemerkt hatte, den nichts erschien mir peinlicher als die Vorstellung den Eindruck eines starrenden Lüstlings zu erwecken) wusste ich um deren Größe, welche merklich über den Durchschnitt der Gesäugedimensionen der meisten Frauen lag, sie aber trotz dieser Größe zu den Proportionen des Körpers passten und zu einem harmonisch wirkenden Gesamteindruck beitrugen. Alle Frauen die ich kannte hätten diese durch eine figurbetonte Kleidung der Öffentlichkeit präsentiert und sich allein aufgrund der verstärkten Anzahl der Blicke männlicher Menschen als anziehender als andere Frauen empfunden. Aber Michelle war anders als ihre Geschlechtsgenossinnen, versuchte offensichtlich Blicke der Männer auf ihre Figur zu vermeiden.
   Trotzdem konnte ich mit Fug und Recht behaupten ihr Lächeln weitaus faszinierender zu finden als den Anblick ihres Busens. Auf letzteren fiel mein Blick immer nur durch Zufall, während ich weitaus länger und öfter ihr Gesicht betrachte und ein Aufblitzen der beiden makellosen Zahnreihen erhoffte.
   In den Vormonaten war ich des Öfteren in den Genuss gekommen dieses zu sehen, zudem noch als direkte Reaktion auf meine Worte. Einige wenige Male hatten wir uns zufällig getroffen, bei Konzerten, Feten oder in der als Treffpunkt der Punkszene fungierenden Gaststätte, waren ins Gespräch gekommen und hatten uns mehr oder weniger lang unterhalten. Schon nach der ersten Unterhaltung fand ich ihre Art zu sprechen, den Klang ihrer Stimme und überhaupt die gesamte Frau überaus anziehend und sehnte eine Wiederholung herbei, während der Wunsch diesen Menschen berühren zu wollen immer größer wurde.
   »Eh Meia, ich fahre mal eben zu Presti watt zu kiffen kaufen, ich hätte jetzt echt Bock watt zu rauchen aber leider kein Piece am Start…«, riss mich eine männliche Stimme aus meinen Gedanken, die sich hauptsächlich um die Vorstellung drehten wie es sich anfühlen würde die Lippen von Michelle zu küssen, eine Erfahrung, die ich zwar sehnlichst herbeiwünschte, aber deren Realisation ich nicht zu erhoffen wagte.
   Ich wandte meinen Blick von Michelles – die dicht gedrängt neben der Wohnungsmieterin Sunny und zweier Mitglieder einer kurz vorher aufgetretenen Berliner Hardcoreband auf einem Sofa saß – traurig blickenden nussbraunen Augen ab und schaute den Sprecher an.
    Es handelte sich wie erwartet um Sven, der aus irgendwelchen Gründen immer eine an den Außenseiten der Beine geschnürte Lederhose trug. Ansonsten wirkte er mit seinen glatten, halblangen Haaren und der normalen Kleidung überhaupt nicht wie ein Punk, hielt sich aber schon seit Jahren im Umfeld der kleinen Troisdorfer Punkszene auf, dessen Kern sich aus ein bis zwei Dutzend auffällig gekleideter Menschen die ein jeder sofort als Punks bezeichnen würde zusammensetzte. Allerdings wuchs dessen Gesamtgröße durch die Anwesenheit vieler einer anderen oder gar keiner Gruppierung angehörenden Bekannten der einzelnen Punks zu einem meist vielköpfigen Freundeskreis. Gemeinsamer Nenner war in vielen Fällen die Musik, erstaunlich viele Menschen denen man ihren Geschmack nicht ansah mochten Punk- oder Hardcoresound, hinzu kam die vor einigen Jahren begonnene Überschneidung der Musikrichtungen Hardcore und Heavy Metal welche auch die Anhänger der beiden Stile kommunikativ einander näher brachte.
    Sein Anblick erinnerte mich automatisch an den nur wenige Stunden zurückliegenden Auftritt einer Berliner Hardcoreband in einem kleinen Jugendzentrum und wie er mich dort fragte, ob ich nach dem Konzert ebenfalls Sunny besuchen wollte um zusammen mit einigen der Konzertbesucher und der Band selbst ein wenig zu feiern. Zuerst dachte ich an mein ursprüngliches Vorhaben nach dem Konzert direkt nach Hause zu gehen und den Restabend ruhig vor dem Fernseher verbringen zu wollen, aber als er die Anwesenheit Michelles dort erwähnte hatte ich sofort einwilligt und sein Angebot einer Mitfahrt in seinem Auto angenommen.

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