Aber heute lief alles echt gut, und wenn es so weiterging würde ich ausreichend Zeit gut machen können die dann verwendet werden könnte um zum Schichtende die Maschine in Ruhe und gründlich zu reinigen. Die Hubel waren in Ordnung, nicht zu fest und nicht zu weich, und außerdem waren mir zeitfressende Defekte bisher erspart geblieben. Zum Anspitzen benutzte ich einen runden Aufsatz, dessen innen angebrachte Klingen den erwünschten Winkel schnitten. Bei zu starkem Druck oder wenn die Rohlinge feste Enden hatten wurde diese Tätigkeit wirklich schweißtreibend und dauerte erheblich länger. Häufig drehten sich die Hubel mit, rotierten im Tempo der Drehbewegung in ihren Schalen, auch wenn ich mich mit einem Bein auf den Hubel stützte und ihn dadurch festhielt. Da mein Körpergewicht zu gering war um ein Mitdrehen zu verhindern half auch Setzen auf jene nicht, die Hubel drehten sich trotzdem mit. die Hubel drehten sich trotzdem mit. Aber heute war dies nicht der Fall und alles ging problemlos und schnell.


   Mit einer kurzen Handbewegung warf ich die beim Anspitzen abgeschnittenen Späne auf die rotierenden Drehteller vor mir. Rasch wurden sie zu dem zum Förderband führenden Loch befördert und verschwanden aus meinem Leben. Aber dies bekam ich nicht mehr mit, ging immer noch gebückt und schnellen Schrittes mit der in der Hand getragenen Anspitzvorrichtung zum zweiten Hubel auf der anderen Maschinenseite. Der Zeitgewinn durch einen Verzicht auf das Aufrichten lag zwar im Bereich sehr weniger Sekunden und war damit vernachlässigungswürdig, aber ich sah es nicht ein, meine Energie für eine Körperhaltungsänderung zu verschwenden die ich nach nur wenigen Momenten sowieso wieder rückgängig machen musste. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Maschine in meiner bisherigen Tätigkeitszeit des Anlegens neuer Hubel nur vier weitere Schirme ausgedreht hatte, erkannte an diesem Zeitmesser bisher im angestrebten Tempo gearbeitet zu haben und wieder erfüllte mich ein Gefühl der Freude wegen des problemlosen Ablaufs.


   Nachdem ich auch den zweiten Hubel ohne besondere Anstrengungen gekürzt und angespitzt hatte, stellte ich den dafür benötigten Schneideaufsatz ab, erhob mich und richtete mich auf. Dies war der langerwartete Zigarettenzeitpunkt. Meine Hände waren immer noch feucht als ich in die Hosentasche griff, zwischen Nägeln, Kleingeldstücken und mehreren Ersatzfingerschutzen herumwühlte, schließlich fündig wurde und rasch ein halbleeres Einwegfeuerzeug mit einer halb verschwundenen Werbeaufschrift hervorzog. Während ich zum Schaltpult der Maschine ging umschlossen meine Finger gierig eine Packung Filterzigaretten und ich freute mich auf den bevorstehenden Genuss. Endlich durfte ich rauchen, war der Moment für einige erste schnelle Züge erreicht. Hektisch inhalierte ich den blaugrauen Rauch, hörte dabei schon lange nicht mehr das ständige Hintergrundwummern einiger Generatoren und das Rauschen der Quirle, fühlte nicht, dass es fast Morgen war und die damit einhergehende Erschöpfung einer durchgearbeiteten Nacht und schaute fast liebevoll auf einen Radiorekorder, aus dessen Inneren das monotone Gelaber eines Nachrichtensprechers zu mir drang. Obwohl er ziemlich schrottreif aussah, verdreckt war, die Einschublade für die Kassette fehlte und als Ersatz für die abgebrochene Antenne ein Stück Stahldraht diente der von einem benutzten und logischerweise nicht gereinigten Schwamm fixiert wurde, hatte er mir schon gute Dienste geleistet. Als ich neu an dieser Maschine war, hatte ich anfangs immer Kassetten mitgebracht um bei treibender Punkmusik meinen Akkord erledigen zu können. Smily GitarristSchnell musste ich feststellen, dass eine Tapeseite nur 45 Minuten lief und dann umgedreht werden musste, aber diese 45 Minuten waren immer rasend schnell vorbei gewesen und stets hatte mir die nötige Zeit zum Umdrehen gefehlt, musste ich statt Musik den Geräuschen der Maschinen lauschen. Obwohl ich es privat nie machte hörte ich seitdem lieber Radio, denn ein Radio brauchte man wenigstens nicht dauernd umdrehen, eigentlich sogar nie.


   Die Maschine hatte inzwischen die letzten Schirme fertiggestellt, der Schlitten fuhr zurück, die Revolverköpfe drehten sich in Richtung der für die Endbearbeitung benötigte Messer. Die abgedrehten Isolatoren zeigten keinerlei Unwucht, liefen gerade und ich hatte fast wieder einen Durchlauf auf dem langen Weg zum Feierabend hinter mich gebracht. Um Zeit zu sparen und da ich in den nächsten Minuten sowieso nicht zum Rauchen kam, löschte ich die halbgerauchte Zigarette im Wassereimer, warf den Stummel in einen überquellenden, am Schaltpult festgeschraubten und offensichtlich ehemals der Bundesbahn gehörenden Aschenbecher und griff wieder zum Schwamm.


   Die unteren Schirme nachzubearbeiten vergaß ich aus Zeitgründen absichtlich, und während ich meine Arbeit vollendete lief die Maschine aus, zwei fertige Isolatoren warteten darauf in Kürze von mir als „Angefertigt“ markiert zu werden. Die Abschneider, vier an einer Drehsäule befestige Drahtbügel, fuhren langsam heran und ich achtete darauf nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen, wich ihnen aus. Leider hatte diese Säule nicht genug Kraft, um alleine ihre Arbeit zu machen, auch hier musste ich nachhelfen indem ich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Drahtbügel drückte und dabei einige Verrenkungen in Kauf nahm. Aber heute war alles gut, es ging leicht, kein Draht riss und erzeugte so eine künstliche Verzögerung. Die Maschine stoppte ganz und die fertigen Isolatoren wurden entnommen. Sobald sich mir genug Platz bot, sprang ich in die Maschine und entfernte die erneut die übrig gebliebenen Endstücke.


   Da die fertigen Isolatoren mittlerweile auf ihren Stellplätzen angekommen waren, war das Programm also beendet, die Maschine leer und der Tanz konnte erneut beginnen. Rasch sprang ich zum Schaltpult, drückte….



   Stunden später saß ich bei meinem Feierabendbier im Schatten einer anderen Maschine und beobachtete die Kollegen der Frühschicht, die im Gegensatz zu mir nur in zwei Schichten arbeiteten, früher anfingen und in hektische Aktivitäten verwickelt waren. Ich war froh eine Nachtschicht ergattert zu haben, denn so sah ich niemanden, konnte tagsüber so lange schlafen wie ich wollte und außerdem gab es einen steuerfreien Zuschlag zum normalen Lohn, so dass sich das Arbeiten wirklich lohnte. Reich werden konnte man damit nicht, nur durch eine Nachtschicht verdiente ich annähernd soviel wie ein durchschnittlicher Handwerker, und dass, obwohl ich zu den bestbezahltesten Arbeitern gehörte, nur zwei oder drei andere einen höheren Stundenlohn als ich bekamen.


   Smily Fahrrad Als ich mit dem Rad nach Hause fuhr war ich froh endlich über längere Zeit sitzen zu können. Das bisschen Beinarbeit störte mich nicht und wurde gar nicht mehr wahrgenommen. Aber noch mehr freute ich mich auf Zuhause, einige in Ruhe genossene Zigaretten, mehrere Dosen kühles Bier sowie etwas selbsterwählte Musik. Das reichte mir und ich dachte in diesen Momenten kaum daran, dass alles am nächsten Abend wieder von vorne losgehen würde. Aber so ist das Leben, alles wiederholt sich.





   Anmerkung: Der Titel „9,4 Minuten“ bezieht sich auf die in der Akkordrichtlinie vorgegebene Arbeitszeit. Die Maschine selbst lief natürlich geringfügig (1 - 1,5 Minuten) schneller, also musste man seine persönliche Tätigkeitszeit an die Maschinenlaufzeit anpassen damit man etwas Zeit herausholte. Um einen normalen Stundenlohn zu verdienen (damals Mitte der Neunziger rund 15 Mark brutto) war es nötig sechs Maschinen pro Stunde zu schaffen; wenn man genau nach Vorschrift arbeitete war man in einer Stunde allein 56 Minuten und vierzig Sekunden beschäftigt um diesen zu erreichen. Die restlichen 3 Minuten und zwanzig Sekunden konnten dann für persönliche Ausschweifungen wie Toilette oder Getränkeautomat genutzt werden. Innerhalb von acht Stunden summierte sich die theoretische Verteilzeit auf knapp 26 Minuten pro Schicht, von denen wiederum 15 Minuten für das Reinigen der Maschine zum Schichtende vorgesehen waren. Also blieben knapp elf Minuten für sämtliche hinzugekommene Zusatzaufgaben. Da die Toilette weit über hundert Meter entfernt lag, konnte ein Wunsch wie der nach einer Blasenentleerung leicht zu gravierenden Zeitproblemen führen. Smily Konsterniert Darauf angesprochen hatten Kollegen für Akkordanfänger einen leider wenig praktikablen Rat zur Hand: „Zieh´s hoch und spuck´s aus…

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