© Meia 2005

Als ich um zehn Uhr abends an die Maschine kam, war mein Vorgänger bereits verschwunden. Wahrscheinlich hatte er genug Zeit herausgearbeitet, um im Waschraum mit den vielen abgeschraubten und nicht vorhandenen Wasserhähnen (viele ausländische Kollegen bauten anscheinend) einer schnellen Katzenwäsche nachzugehen und in den Sekunden bis zum Feierabend ein wenig zu Atem zu kommen.

   Mir war das aber egal, er hätte sich meinetwegen auch irgendwo erhängen können, Hauptsache nicht an meiner Maschine und hoffentlich hatte er sie vor einem möglichen Suizid noch gereinigt. Ich freute mich, dass genug Arbeitsmaterial vorhanden war, zwei halbfertige Isolatoren in der Maschine standen und mich eine höchstwahrscheinlich stressfreie Schicht erwartete. Etwas beruhigt verstaute ich eine Dose Feierabendbier in einem altersschwachen Kühlschrank, vergewisserte mich, dass dieser eingeschaltet war und startete die Maschine vier Minuten vor eigentlichem Arbeitsbeginn. Das war so üblich, bei manchen Artikeln arbeitete ich sogar die Pausen durch, entweder, weil ich meinen Akkord sonst nicht schaffte oder um meinen Rhythmus nicht zu verlieren. Aber bisher war heute eigentlich alles gut gegangen. Im Supermarkt hatten diesmal keine alten Omas mit ihrem Kleingeld herumgefummelt oder ein zeitraubendes Schwätzchen mit einer genervten Kassiererin gehalten, konnte ich meine Einkäufe also schnell und ungestört verrichten. Auch auf dem Weg zur Arbeit war nichts passiert. Ein überraschender Defekt meines Fahrrades war mir erspart geblieben, kein Autofahrer hatte versucht mich durch ein gedankenloses Fahrverhalten umzubringen und sogar die neuerdings den Eingangsbereich absichernde stählerne Drehtür hatte mir heute keine Probleme gemacht.

   Das war schon ganz anders gelaufen.

Smily NachdenkenVor einigen Wochen noch war ich öfters an dieser Tür – die äußerlich stark an Gefängnisinventar erinnerte – gescheitert, da diese nur mit einer Barcodekarte zu öffnen war und der allgegenwärtige, feine Staub nebst einer schlampigen Laminierung der Karte für manches Zuspätkommen gesorgt hatte. Als ich wegen der Tür einmal zwanzig Minuten warten musste, der Leser meine Karte nicht erkennen wollte und ich in diesen zwanzig Minuten natürlich kein Geld verdienen konnte (Logisch. Rumstehen ist keine Leistung, also wird das auch nicht bezahlt), hatte es mir endgültig gereicht. Da ich zu Hause einen Computer herumstehen hatte und die Ursache des Problems offensichtlich war, war es mir ein Leichtes zur Problembehebung aktiv zu werden. Also scannte ich die Karte, verstärkte mittels eines Bildbearbeitungsprogrammes den Kontrast, vergrößerte den Barcode und druckte alles wieder aus. Seitdem hatte ich einige selbstgemachte Karten immer dabei wenn ich zur Schicht aufbrach. Das Original benutzte ich niemals wieder und mit meinen Kopien hatte ich keine Probleme. Eine Woche nachdem ich warten musste standen als ich das Gebäude zwecks Feierabend verließ zwei Schlosser und ein Elektriker an der Tür, begutachteten das Lesegerät und redeten wild durcheinander. Da hatte sich wohl jemand beschwert. Ohne ein Wort zu sagen öffnete ich mittels meiner selbstgemachten Karte wie immer problemlos die Tür. Smily GrinsenDa es niemandem auffiel hielt ich meinen Mund und sagte nichts. Eine solche Problemlösung zu verkünden wäre für einen einfachen Arbeiter nicht ratsam gewesen, weil die Belohnung höchstens in einem warmen Händedruck bestanden hätte und jegliche Anerkennung von Ranghöheren in Anspruch genommen worden wäre.

   Einige Stunden später war ich "so richtig drin". Alles lief rund, ich hatte mich erneut an Arbeit und Akkord gewöhnt, die Maschine lief ununterbrochen und bisher war keine Störung aufgetreten. Fast schon langweilig, aber nur fast. Routiniert kämpfte ich gegen die Uhr, sah nur die Zeit, die vergangen war, ärgerte mich, dass es nicht schneller ging und dachte überhaupt nicht daran wie spät es eigentlich schon war, welch seltsame Zeit dieses Gerät anzeigte und was ich am Wochenende zu gleicher Stunde so trieb.


   Die Maschine war durchgelaufen, ich wartete einige stundenlange Sekunden bis die fertigen Isolatoren automatisch von zwei unterhalb der Abschneider angebrachten Gabeln angehoben, der Maschine entnommen und gähnend langsam zu ihren Abstellplätzen bewegt wurden. Sobald ich genug Platz hatte um an die Werkstückhalterungen zu gelangen sprang ich auf den Rand der Maschine und entnahm die übriggebliebenen Endstücke.


   Für die oberen musste ich in Kopfhöhe ziehen, zerren und rucken, bis sich die aufgrund der Kohäsionskräfte sehr fest sitzenden Tonscheiben lösten. Früher hatte ich sie noch durch einfaches Gegenschlagen gelöst. Dies war deutlich schneller gegangen, aber seit ich der Eile wegen öfter danebengeschlagen hatte, statt der weichen Massestücke die metallenen Hauben getroffen und mir blutige Hände geholt hatte, unterließ ich dies lieber. Die losgelösten Endstücke warf ich in eine große Plastikkiste. Dies war zwar eine vermeidbare Zusatzanstrengung, aber trotzdem vertretbar, da diese direkt hinter der Maschine und nahe am Lösequirl stand, zudem die Stücke leicht waren und ich mich sowieso schon in aufrechter Haltung befand. Die Endstücke wollte ich später direkt in den Quirl werfen. Das Auflösen derer in einem Becken voller schnell bewegten Wassers dauerte wegen ihre Größe zwar länger, aber die schnell rotierende Schiffsschraube im Quirl hielt das schon aus und ich hatte einen Weg gespart.


   Für die unteren Endstücke, die größer und schwerer waren, musste ich mich bücken und entfernte sie indem ich mein ganzes Körpergewicht gegen eine unbrauchbare, angespitzte Feile drückte, diese in die Massereste presste und die Feile als Hebel benutzte. Die aufgespießten und gelockerten Reste warf ich auf die inzwischen stillstehenden Scheiben, damit sie bei der nächsten Maschine sofort Richtung Quirl abtransportiert wurden und ich so ein zusätzliches Anpacken und ein Aufrichten mit Gewichten in den Händen vermieden hatte.


   Daraufhin stürzte ich zum Schaltpult und drückte so schnell ich konnte einen verschmierten Knopf, startete die Maschine erneut. Nun wurden die neuen Rohlinge - zwei zentnerschwere sogenannte 'Hubel' - mittels hydraulischen Hebearmen in die Maschine gesetzt. Während sich die beidseitig postierten Hebevorrichtungen in Bewegung setzten nahm ich mittels einer dafür vorgesehenen Vorrichtung einen der beiden fertigen Isolatoren und setzte ihn auf das vorbereitete Gestell. In den Vorschriften war diese Reihenfolge nicht vorgesehen, sollte dies erst nach der Neubestückung erfolgen, aber da man sonst den Akkord nicht schaffte, ich fast dreißig Sekunden Wartezeit einsparte wenn ich beides gleichzeitig machte, ignorierte ich die an einem Pfeiler befestigte Arbeitsanweisung. Smily Verlegen


   Dabei musste ich in einem bestimmten Winkel sehr viel Kraft aufwenden, ja förmlich mit allem was mein Körper hergab gegen die Abhebevorrichtung drücken damit sich diese überhaupt bewegte und von mir dirigieren ließ. Den Grund hierfür sah ich in einigen abgenutzten Lagern der Standsäule, aber meine Beschwerden darüber verhallten ungehört und ich sah es nicht als meine Aufgabe an mich darum zu kümmern. Die Last lag auf einer Gabel dessen Höhe pneumatisch ausgerichtet wurde. Auch hier fand ich einen Fehler, denn die Bedienung des Hebels erforderte einige Gewöhnung da das Ventil heftiger als andere reagierte und sehr schnell auf und ab fuhr. Weil Pneumatik zu meinen Lieblingsfächern in der Berufsschule gehört hatte, ich mir aus reinem Spaß an der Materie sogar freiwillig und in meiner Freizeit selbst Aufgaben stellte und diese löste, sah ich die Ursache sofort, vermutete ein falsch eingestelltes Ablassventil. Aber auch das gehörte nicht zu meinen Aufgaben, brachte mir kein Geld und wurde deshalb stets aufs Neue ertragen, obwohl ich mir sogar die Reparatur desselben zutraute und der Meinung war nur einige Minuten dafür zu brauchen.


   Den fertigen Isolator stellte ich rasch ab, umwickelte das obere Ende mit bereitliegendem Papier und befestigte ihn mit einer Schleife, damit die Kollegen einer anderen Abteilung keine Zeit mit der unnötigen Fummelei die das Öffnen eines Doppelknotens mit sich brachte verloren. Dass mir dabei das als Befestigungsschnur dienende weiße Stoffband schmerzhaft in die noch nassen Hände schnitt übersah ich geflissentlich.


   So schnell ich nur konnte stürzte ich erneut zum Schaltpult, versetzte die mittlerweile eingesetzten Hubel durch schnelles, dreimaligen Drücken eines Knopfes in Rotation und startete so den Abdrehvorgang. Da ich keine Zeit verlieren wollte verzichtete ich auf eine vorherige Kontrolle des korrekten Sitzes der Rohlinge, startete ich die Maschine direkt und wandte mich wieder jenen Gegenständen zu die ich eben achtlos stehen und liegen gelassen hatte. Vorschriften interessierten mich nicht wenn es um bares Geld ging, und die Arbeitsanweisungen sorgten in ruhigen Minuten immer wieder für Heiterkeit, schienen sie doch dem Gehirn eines Träumers entsprungen, wiesen keinerlei Bezug zur Realität auf.


   Während die Maschine lief und ein Vorschrubber die Außenhaut der Hubel entfernte, stellte ich den zweiten Isolator auf das Gestell und band ihn fest. Damit das Band keine Schäden hervorrief und der Isolator während des Trocknungsprozesses rutschen konnte ohne seinen Halt zu verlieren, wurde es mit Papier unterlegt, den sogenannten Manschetten. Diese bestanden zumeist aus stinknormalen Zeitungspapier, das den Trocknungsprozess höchstens dreimal überlebte und dann in viele kleine Teile zerbröselte. Da ich lieber neues Papier verwendete, stellte ich diese selbst her und hortete überzählige Teile in meinem Spind. Dort gelagert dienten sie als stille Reserve und außerdem musste ich mit niemandem teilen, war alleiniger Nutznießer meiner Arbeit. Vor jeder Schicht pflegte ich zu Hause so viele Manschetten herzustellen, wie ich sie für einen Arbeitstag benötigte und wurde dadurch überflüssiges Altpapier los. Zuerst faltete ich Doppelseiten, aber schnell wurde mir dies zu nervig und zeitaufwendig, also schnitt ich die Doppelseiten lieber in passend große Teilstücke. Dadurch wurden die Manschetten zwar dünner, aber ich war in einem Bruchteil der Zeit mit meinen Vorbereitungen fertig.

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