Schlussakkorde (1)

Im Sommer 1981 reisten wir (S. und ich sowie wechselnde Mitreisende) öfter in andere Städte. Da S. im Frühjahr den Führerschein gemacht und von seinen Eltern ein billiges Auto bekommen hatte, besaßen wir die Möglichkeit eines ständig zur Verfügung stehenden fahrbaren Untersatzes und nutzen sie oft. Meist fuhren wir anlässlich von Punkkonzerten in die Wohnorte von anderen Fanzineherausgebern, besuchten sie und lernten die dortigen Punks kennen. Unter anderem fuhren wir im August des Jahres nach Wilhelmshaven/Oldenburg, lernten die Macher der Fanzines Ramsch, Der letzte Dreck (beide Oldenburg) und Fehlversuch/Platzangst (Wilhelmshaven) kennen und sahen erstmalig die legendären Buttocks sowie die hervorragende, ebenfalls aus Hamburg stammende, Newcomerband Slime live auf einer Bühne stehen und eine große Menge von Punks mit ihrer Musik begeistern. In der im Herbst des jenes Jahres erschienenen sechsten Ausgabe des Tiefschlag berichtete ich über diese Tour und ihre kleinen Nebenereignisse:

15.08.1981

Wilhelmshaven Schaardreieck

Tja, die Reiselust hatte uns wieder mal gepackt und so entschlossen wir uns nach Wilhelmshaven zu Slime, Buttocks und Rape zu fahren. Schon Freitagvormittag gings zusammen mit Schlung im Schlamm, äh Dung im Damm, ne, Dung im Schlamm los. Natürlich kann es nicht ohne Zwischenfälle abgehen wenn ein S. autofährt, also musste er erstmal bei ner Raststätte in Remscheid sein gesamtes Geld, die Autopapiere, Personalausweis und Führerschein verlieren, was uns über eine Stunde Zwangsaufenthalt bescherte, bis uns ein netter Bulle das Zeug wiederbrachte. Nach einer mehr oder weniger chaotischen Fahrt karrten wir dann so um fünf in WHV an, zuvor hatten wir noch versucht irgendwo den Daniel Drüsendieb in Oldenburg aufzutreiben, aber der war wohl wieder irgendwo am rumsaufen. In WHV gibs nen guten Plattenladen, den Nuko, vor dem sich die Punks dort immer treffen. Der Laden sieht aus wie ein normaler Plattenladen, hat aber außer der normalen Musikkacke auch gute deutsche, holländische und belgische Sachen da, das Angebot ist also ziemlich gut. Da es uns vorm Nuko nicht so gut gefiel suchten wir erstmal das Schaardreieck, wo am näxten Tag das Konzert stattfinden sollte. Es hat zwar lange gedauert bis wir da waren und die Fahrt war auch wieder ziemlich nervig, aber schließlich schafften wir es doch. Das Schaardreieck ist echt ein toller Laden, ein Konzertraum so groß wies Nam Nam in dem normalerweise Sessel und ne Tischtennisplatte drinstehen, ein Kneipenraum voller Möbel - sieht dort aus wie in nem Wohnzimmer - und ein kleiner Raum, mit Flipper und Spielautomaten. Echt gut da, nur ne Flasche Alt kostet zweifuffzich. Mit dem Bier ist das da oben sowieso so ne Sache, das meiste schmeckt nicht und das gute ist viel zu teuer. Später kamen dann die Gebrüder Bengel, die das Ganze organisierten, und besorgten uns ein Zelt, in dem wir hinter dem Schaardreieck pennen konnten, da andere Pennplätze irgendwie nicht aufzutreiben waren. Das wurde dann dank S. wieder mal ne harte Nacht, er war total besoffen und wollte im Auto pennen, machte erstmal ne Stunde Lärm und weckte uns dann morgens mit der Mitteilung, dass er seine Socken vollgeschissen und diese dann verloren hatte. Den näxten Tag kriegten wir auch noch so einigermaßen rum bis abends dann das Konzert anfing. Rape begannen und für alle die es noch nich' wissen, Rape kommen aus Oldenburg, haben schon zwei Kassetten gemacht und jetzt soll auch noch ne EP von denen erscheinen. Also ich hab ne Kassette von denen gehört und mir gefallen sie ziemlich gut, natürlich Pogosound, aber mit eigenem Stil und ziemlich abwechslungsreich. Und so klangen sie dann auch bei ihrem Gig in WHV, doch leider war das Publikum nicht allzu gut drauf (ich auch nich). Es gab zwar Brutalpogo, aber wirklich nur ein bisschen. Die Leute von Rape regte das natürlich auf, besonders weil sie vorher noch so ziemlichen Ärger mit dem Mixer hatten der überhaupt nix kapierte. Ich persönlich fands toll, nur leider hatte ich auch keinen Bock auf Pogo, hatte wohl mal wieder nen schlechten Tag erwischt. Ich meine, wenn der Laden kleiner und etwas mehr Leute dagewesen wären, wenn es also enger gewesen wäre, hätte das alles wohl ziemlich anders ausgesehen. Die Bühnenshow des Bassisten gefiel einigen Leuten nicht, mir ist das nicht so aufgefallen, höchstens das sich die Leute auf der Bühne voll verausgabt haben, was ich schon bemerkenswert fand, andere Gruppen resignieren einfach und spielen ohne Power und einfach so lala ihr Programm runter wenn das Publikum nicht auf sie eingeht. Anders aber Rape, die wenigstens noch versuchten, Leben in den schlaffen Haufen vor der Bühne zu bringen. Trotzdem glaube ich, dass Rape bei vielen Leuten einen positiven Eindruck hinterlassen haben, trotz diesen vom ganzen Drumherum gesehen nicht sehr guten Auftritt.
Jetzt macht der S. weiter mit dem Rest des Abends:

Fundsache aus Tiefschlag #6:

Zu Beginn der achtziger Jahre kommentierten häufig merkbefreite und von jeglichem Vorwissen unbelastete Journalisten Geschehnisse rund um die Punkszene, warteten mitunter mit den absurdesten Interpretationen auf. Ein schönes Beispiel dafür ist der Ausschnitt aus einem Artikel der im Sommer 1981 in einer hiesigen Lokalzeitung erschien. Die Abenteuerlichkeit der Erklärungen ist bezeichnend, offenbar konnte der Verfasser nichts mit den Bandnamen Crass, KFC und Discharge anfangen. Aber die Definition von als ein "Erkennungszeichen deutscher Terroristen" ist allerdings einmalig und eine Perle deutscher Medienkultur.

Nach Rape, von denen ich leider nich viel gesehen hab, kamen dann nach ner halben Stunde die Buttocks. Naja, wie auch schon bei Rape gabs stumpfen Brutalpogo der echt keinen Spaß machte. Ich hab ne Flasche annen Kopp gekriegt und die Buttocks spielten ihr Programm runter. Nicht, das sie schlecht waren, besonders Nein Nein Nein Buttocks ‘Nein Nein Nein’ und Kill the Pigs Buttocks ‘Kill the Pigs’ gefiel mir, aber irgendwie fehlte die Würze und alles war so Durchschnitt. Nachdem sie fertig warn, verzogen sich fast alle Leute nach draußen, so dass es kein Wunder war, dass Slime fast unbemerkt von der Meute anfingen. Obwohl es anfangs noch Probleme mit der Leadgitarre gab, die noch nicht richtig gestimmt war, zogen die Jungs echt gut rein, und es gab auch endlich den herrlichen Urpogo a la Ruhrpott. Beste Stücke von Slime: Deutschland  Slime ‘Deutschland’, Polizei-SA-SS  Slime ‘Polizei-SA-SS’ und Bullenschweine  Slime ‘Wir wollen keine Bullenschweine’, das zweimal gespielt wurde, einmal normal und einmal total schnell. Ich hab mich echt gefragt, wie man überhaupt so schnell singen kann. Jedenfalls war total der Bär los, wobei einige Leutchen auch leichte Pogoausfallerscheinungen zeigten (hallo Nof!). Als Slime Hier regiert der HSV  Slime ‘Block E’ spielten, konnte ich das als echte kölsche Jung natürlich nicht auf mir sitzen lasse, ich zog mein 1. FC Köln T-Shirt aus, hielt es dem Sänger unter die Nase und ersetzte jedesmal "HSV" durch "FCK" (wenn Slime in Hamburg gespielt hätten, hätt ich das natürlich nicht gemacht). Daraufhin sah sich der Sänger gezwungen, die Strophe in Nieder mit dem FCK umzuändern. Irgendwie kam ich mir vor wie in der Südkurve, Fußball-Rules-OK! Nachdem dann etliche Liter Schweiß vergossen waren, hörten sie dann endlich auf und wir konnten pennen gehen.

So, und jetzt mach ich wieder weiter:
Zum Glück brauchten wir die näxte Nacht nich innem Zelt zu verbringen, wir hatten endlich nen Pennplatz gefunden. Dann, sonntags, fuhren wir nach Oldenburg, Nof auch noch dabei und in Oldenburg versuchten wir erstmal wieder diesen Daniel Drüsendieb aufzutreiben, der aber wieder mal nicht zuhause war. Also erstmal ins Sun Ups, so heißt der Laden indem sich die OL-Punks treffen. Natürlich war da auch kein Schwein, und da wir Hunger hatten düsten wir alle erstmal nach Bremen, Fritten essen. Da dort auch nix los war und Herr Nof die Eule nicht wiederfand gings also wieder zurück nach Ol. Im Sun Ups waren die ersten Leutchen zu sehen, Daniel Drüsendieb tauchte auf und so wurde es noch eine alkoholische Nacht. Morgens weckte dann S. unseren Nof auf ganz liebevolle Art, indem er einen großen Blumentopf auf ihn drauf warf und ihn damit verdreckte und durchnässte. Oldenburg ist schon ne bemerkenswerte Stadt, da kann man überall rumlaufen wie man will, man wird einfach nicht angemacht, echt schön da wenn ich dagegen an Köln denke. Abends durften wir dann noch einmal einen total besoffenen DD erleben, außerdem noch einen romantischen S., der eine gewisse OL-Punkette mit romantischen Geflüster nervte. Hätte das seine Omi gehört, wären ihr bestimmt die Tränen vor Rührung gekommen. Auf der Rückfahrt passierte dann sensationeller Weise überhaupt nix!!


Aus der Abteilung Jugend forscht oder Meia forscht auch: Natürlich wusste ich von keinerlei möglichen Geschehnissen der Rückfahrt zu berichten, weil ich überhaupt nix mitbekam. Nachdem ich ein Glas Kirschen gegessen hatte war ich megagranatenvoll und befand mich in einer Art selbstherbeigeführten Komas. Zu diesem Experiment hatte mich eine Folge der Fernsehserie Michel aus Lönneberga animiert, als Michel den Tieren des elterlichen Hofes versehentlich alkoholhaltige Kirschen zu fressen gegeben hatte und die ganzen Viecher dann hochstramm durch die Botanik geeiert waren. Das wollte ich gerne auch einmal ausprobieren. Aufgrund fehlender Haustiere entschied ich mich für die Experimentform des Selbstversuches. Außerdem versprach gerade bei diesem Versuch die teilnehmende Beobachtung mehr Spaß als eine Narkotisierung anderer. Folglich hatte ich mir einige Wochen vor dieser Tour ein Glas Kirschen und eine Flasche Korn gekauft. Noch am selben Tag schüttete ich das Kirschwasser ins Spülbecken und ersetzte es durch den Korn. Diese Mischung ließ ich dann mehrere Wochen unberührt, damit die Kirschen Zeit hatten wichtige Wirkungsbestandteile des Korns in ihr Fruchtfleisch aufzunehmen. Vor der Abreise Richtung Wilhelmshaven/Oldenburg goss ich die Flüssigkeit wieder weg und verpackte die von mir nun "Knallkirschen" genannte Nahrung in meinem Reisegepäck. Als dann die Rückfahrt von Oldenburg nach Troisdorf begann sah ich darin den richtigen Zeitpunkt für ein nebenwirkungsreiches Mahl. Also aß ich die Kirschen und wurde nicht enttäuscht, war mächtig beschwipst und verschlief die gesamte Rückfahrt. Etwaige Ereignisse konnte ich also nicht miterleben. Im Nachhinein sah ich mein Handeln als vorteilhaft an, denn die lange Autofahrt war mir sehr kurz vorgekommen und außerdem die unzähligen, nervigen Pinkelpausen entfallen…

Herstellungstechnisches

Cover Tiefschlag #6

Der sechste Tiefschlag unterschied sich im Erscheinungsbild von dessen Vorgängern. Jedes der über dreihundert Exemplare nummerierte ich und verpackte das Heft in eine kleine Plastiktüte. Außerdem hatte ich mit der billig gedruckten und komplett verkauften Vornummer einigen Gewinn gemacht und gab ihn direkt an die Leser zurück indem ich den ersten hundert Heften einen Badge meiner neuen Band F.D.G.O. hinzufügte. Solche konnte ich mit Hilfe eines befreundeten Fanzinemachers aus Duisburg dort anfertigen lassen. Wie die Nummer fünf wurde die sechste Ausgabe von einem in einer Druckerei arbeitenden Bekannten unter der Hand hergestellt, was nicht nur die Herstellungskosten stark reduzierte, sondern auch die Möglichkeit manche Seiten zweifarbig zu drucken beinhaltete. Letzteres erklärt auch die in roter Farbe gehaltenen Schriftzüge auf dem Cover, welches übrigens ein geklautes Titelfoto einer in jenen Tagen erschienen Ausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel zeigt.

Slime veröffentlichen bis zu ihrer ersten Bandauflösung 1984 vier LPs, wurden rasch als die führende Band des linksradikalen Deutschpunk jener Jahre angesehen, waren durch ihr rebellisches Auftreten und den unverhohlenen Songtexten Sinnbild für den aufmüpfigen Teil der Frühachtzigerjugend.
  Nach ihrer Auflösung verschwanden sie allerdings nicht aus dem Bewusstsein der Deutschpunkliebhaber, sondern ihr Ruhm verstärkte sich noch und die Band errang Kultcharakter. So war es kein Wunder, dass ich zehn Jahre nachdem ich sie in Wilhelmshaven gesehen hatte sofort gen Hamburg aufbrach, als mich die Nachricht eines Auftrittes der nur für dieses Konzert (Stadtteilfestival im Millerntorstadion des FC St. Pauli) wieder reformierten Slime erreichte. Anscheinend waren tausende von Menschen jeden Alters aus den alten und neuen Bundesländern auf die gleiche Idee gekommen, denn insgesamt 15.000 Menschen versammelten sich dort und warteten auf Slime, deren Auftritt als letzte Band des Abends geplant war. Trotz ständigem Nieselregens wurde dies ein denkwürdiger Auftritt. Slime wurden bejubelt und es gab Massenpogo mit tausenden von Teilnehmern ("Hier regiert der HSV" spielten sie allerdings nicht. Verständlich, wäre auch voll der falsche Ort gewesen...). Auch die Band selbst wertete diesen Auftritt als einen vollen Erfolg und sah in ihm den Anlass die Reunion bestehen zu lassen und weitere Konzerte zu spielen. Bewegte Bilder von diesem legendären Auftritt gibt es auch:  Slime Millerntor 1991
  Für alle Menschen die sich für die abwechslungsreiche Geschichte von Slime und einiges mehr (Kampf um die besetzten Häuser in der Hafenstraße, wie der FC St. Pauli zu dem wurde was er jetzt ist, etc.) interessieren, sei das Buch von Daniel Ryser empfohlen. Eine Lektüre lohnt sich.
Ausblick: Als nächstes erscheint dann ein Bericht über das Wischi Waschi 3-Festival und die Ereignisse nach dem Konzert. Komischerweise ist das dann schon letzte Beitrag aus Tiefschlag 6, dessen Erscheinen ich danach einstellte. Aber das Ende dieser Reihe ist damit nicht erreicht, denn danach kommen noch Artikel aus den Bonner Fanzine Bonner Perspektiven. Es geht halt immer weiter.

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