© Meia 1999

Anstatt loszufahren drehte sich der Busfahrer langsam um und blickte in den hinteren Teil des Wagens, musterte die wenigen Fahrgäste misstrauisch.
   Ich schaute aus dem Fenster und tat so, als ob mich die überraschend lange Verweildauer an einer unwichtigen Haltestelle überhaupt nicht interessierte. Unter meinen langen, wirr herunterhängenden Dreadlocks brummte mein Schädel etwas, denn bei dem abendlichen Konzert von "D.I." im Kölner Rose Club war doch einiges an Flaschenbier und teurem Stangenkölsch in diesen Kopf geflossen, und später, in der Troisdorfer Wohnung meiner Freundin, hatten mich zwei weitere Flaschen Bier endgültig nieder gestreckt und ich war in einen komaähnlichen Schlaf gefallen...
   "Sie müssen hier aussteigen!", sagte plötzlich eine Stimme befehlsgewohnt neben mir und ich drehte mich überrascht um. Erstaunt schaute ich den Busfahrer an, der seinen Fahrersitz verlassen hatte und in den hinteren Teil des Busses gekommen war.
   "Nee, noch eine weiter...", antwortete ich mechanisch und registrierte nebenbei, plötzlich von allen anderen Fahrgästen angestarrt zu werden, mit Blicken, die deutlich ihr innerliches Beifallklatschen zeigten und ihre Freude über die Tatsache, dass hier endlich mal jemand durchgriff, zeigten.
   Bei meinen Worten versteifte sich die Körperhaltung des Busfahrers, seine Miene verfinsterte sich etwas und er strahlte Aggressivität und Entschlossenheit aus.
   "Sie haben nur eine Kurzstreckenkarte gelöst, die endet hier und Sie müssen hier aussteigen!", sagte er mit deutlich lauterer Stimme, so als wolle er sichergehen von allen Insassen des Busses gehört zu werden.
   Ich erhob mich unwillig, genervt durch die engstirnige Umgebung und nicht bereit, wegen einer Haltestelle oder dreihundert Metern Fußmarsch eine längere Auseinandersetzung vom Zaune zu brechen.
   Der noch laufende Motor des Busses versetzte diesen in leichte Vibrationen, minimale Bewegungen die sich auf sämtliche Menschen in dessen Inneren übertrugen. Es war als zitterten alle vor unterdrückter Wut. Ich ging an dem ebenfalls leicht vibrierenden Busfahrer vorbei in Richtung Ausstiegstür, sprang locker und leicht die zwei Stufen auf den Bürgersteig hinunter und erwartete applaudierendes Klatschen aus dem Businneren zu hören, was aber ausblieb. Offensichtlich hatte ich nicht genug Widerstand geleistet, hatte ich wider Erwarten den Busfahrer nicht zu einem uneigennützigen Kampf für das Allgemeinwohl gezwungen.
   Der Busfahrer ging wieder zu seinem Arbeitsplatz, die Türen schlossen sich keuchend und einige letzte giftige Blicke der legalen Mitreisenden trafen mich, als der Bus dann anfuhr und sich rücksichtslos in den Verkehrsstrom der Innenstadt drängelte.
   "Die haben sie doch nicht mehr alle...", murmelte ich leise und stiefelte los. Der Busfahrer war zwar im Recht gewesen, hatte im Einklang von Beförderungsbedingungen, Fahrpreistarifen, Dienstvorschriften, Grundgesetz oder UN-Resolutionen gehandelt, im sicheren Bewusstsein mächtige Verbündete im Rücken zu haben die sein Vorgehen unterstützen und begrüßen würden. Dennoch fand ich sein Auftreten extrem kleinkariert und es total arm wegen einer Haltestelle beziehungsweise dreihundert Metern einen derartigen Aufstand zu machen. Ich war diese Strecke schon oft gefahren, hatte aber noch nie eingesehen, wegen einer einzigen Haltestelle extra einen normalen, fast doppelt so teuren Fahrschein zu erwerben und betrachtete deshalb stets die zusätzlichen dreihundert Meter Freifahrt als Bonusleistung für Stammkunden oder Werbegeschenk der Verkehrsgesellschaft.
   "Nasengesichter!", brummelte ich etwas ärgerlich vor mir hin, war aber dennoch eher amüsiert als wütend, denn die erlebte Situation hatte etwas wunderschön Absurdes an sich.
    Innerlich grinsend schritt ich den Bürgersteig entlang in Richtung Fußgängerzone, in der sich auch das Haus befand, dass ich zur Zeit zusammen mit mehreren anderen Leuten bewohnte. Es war eines der ältesten und bekanntesten Bauwerke von Siegburg, es stand unter Denkmalschutz, war zugig und alt und galt als anspruchsvolle Wohnadresse. Oft hielten Passanten vor ihm inne, blickten bewundernd die Fassade an und konnten nicht ahnen, dass hinter den schnuckeligen Fenstern Punks und andere gesellschaftliche Außenseiter völlig legal lebten, soffen, kifften, fickten, die dreigeschossige Wohnebene entgegen der Denkmalschutzvorschriften baulich veränderten, der Keller als Proberaum genutzt wurde und etliche Fernseher, gespeist durch die stetigen Signale einer aufgebrochenen Kabelanschlussbox, rund um die Uhr vor sich hin flimmerten. Auch zeugte an dem altertümlichen, besonders von konservativen Personen als "sehr schön" bezeichneten Fachwerkhaus kein äußerliches Indiz davon, dass vor einem Jahr Dutzende von Polizisten nach langer Observation pistolenschwingend das Innere gestürmt hatten und der zaghafte Versuch einen illegalen Coffee-Shop aufzubauen durch Polizei und Justiz abrupt gestoppt worden war.
   Mein Gehirn grinste breit über beide Hälften denn so eine Situation war genau nach meinem Geschmack, spiegelte mein These wieder, dass nichts so ist wie es zu sein scheint und sich schnell nach dem ersten positiven Eindruck tiefe Abgründe zeigen können. Das Erstaunen naiver Personen über solche schlagartigen Erkenntnisse amüsierte mich immer wieder, denn mein Charakter hatte sich in einer Selbstschutzmaßnahme schon in frühester Jugend dahingehend entwickelt, dass ich automatisch alles erstmal negativ sah, ich förmlich mit Verrücktheiten, Enttäuschungen und seelischen Abgründen rechnete und bei Ausbleiben derselben nur positiv überrascht werden konnte.
   Derartig gewappnet schritt ich durch die Innenstadt, vorbei an bunten Schaufenstern voller Krimskrams, tütenschleppenden, schnaufenden Konsumenten, die, ihrem Jäger und Sammler-Urtrieb folge leistend, auf der Jagd nach neuen Produkten, Schnäppchen und anderen Beutestücken herumwuselten und eine hektische Aktivität an den Tag legten. So etwas gefiel mir natürlich überhaupt nicht, aber ich nahm es als unabänderlich hin, so unabänderlich wie die Jahreszeiten, das stupide Auf- und Untergehen der Sonne und den obligatorischen Bierschiss am Sonntagmorgen. Ich betrachtete die Szenerie wie ein Außenstehender, wie ein spöttischer Zaungast, der resigniert grinsend mit einem Kopfschütteln das sinnlose Treiben anschaut um sich danach in ein leeres Weinfass zu legen und genüsslich eine Dose Bier zu trinken. Nach fünf Arbeitstagen lag es mir am Wochenende einfach zu fern mich um bunten Krimskrams zu balgen. Meinen Bierdosenvorrat hatte ich schon unter der Woche aufgefüllt und wenn sich die Gelegenheit erbot ließ ich lieber meinen Penner und Gammler-Urtrieb freien Lauf.
   Gerade als ich darüber nachdachte, welche Kneipe oder Kaschemme für den baldigen Abend zwecks Gelage und Gegröle in Frage kam, bemerkte ich den interessierten Blick einer alten Frau die mit wackeligen Schritt auf mich zukam. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, begutachtete mit langer Lebenserfahrung die ausgelatschten Sportschuhe, die abgenutzte und teilweise zerrissene Jeans sowie meine auf eine schwarze Bomberjacke fallenden Dreadlocks. Nach einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln richtete sich ihr Hauptaugenmerk auf meine Jeans, sie fixierte diese richtiggehend und ihr Kopfschütteln wiederholte sich deutlicher.
   "Armer, armer Junge....", sagte sie leise als ich an ihr vorüberging und der Klang ihrer Stimme, leise, alt und mit traurigem Unterton, zeugte von einer Ernsthaftigkeit ihrer Worte die keine billige Anpöbelei ausdrücken sollten.
   Ich ging ein wenig erstaunt weiter und widerstand dem Drang, mich umzudrehen und ihr hinterher zu schauen. So eine Art von Reaktion hatte mein Outfit noch nie hervorgerufen, jedenfalls nicht laut geäußert von unbekannten Mitmenschen. Ich war schon oft als Penner, Schwein oder Mülltonnenbewohner eingestuft worden, aber jeder dieser Klassifizierungsversuche hatte grundlegend vorausgesetzt, dass ich den Zustand meiner Kleidung bewusst selbst herbeigeführt hatte, sei es aus Charakterschwäche, Faulheit, Kompostophilie oder genetischer Abartigkeit. Die alte Frau jedoch hatte mir durch ihre Worte zu verstehen gegeben, dass der Anblick meiner kaputten Jeans in ihr ehrliches Mitgefühl ausgelöst hatte, Bedauern darüber, durch Armut oder andere finanzielle Engpässe gezwungen zu sein in Lumpen gehüllt herumzulaufen.
   "Sachen gibt’s.... Nee Nee....", dachte ich etwas verwirrt und lenkte meine Stiefel zielstrebig durch die Fußgängerzone.
   Misstrauisch musterte ich die Passanten, rechnete mit weiteren mitleidigen Blicken oder mildtätig übereichten Pfennigstücken, aber nichts dergleichen passierte. Alles war wie immer, Desinteresse, Gleichgültigkeit und hier und da ein Hauch von Ablehnung begleiteten mich auf meiner Wanderung durch die Geschäftsstraßen und ich atmete erleichtert auf. Trotzdem blieb ein hartnäckiges Hintergrundgefühl des Imageverlustes bestehen, und ich nahm mir vor, in irgendeiner beschaulichen Stunde mein Erscheinungsbild zu überdenken, schließlich wollte ich im Leben andere Ziele erreichen als vielleicht irgendwann einmal als spendenlockende Werbefigur auf Brot für die Welt-Sammelbüchsen zu enden.

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