Im Jahre 2005 besuchte ich einen Gebärdensprachekurs in der Volkshochschule Siegburg. Damals bat mich Alex vom Onlinezine einen Artikel darüber zu schreiben; ich kam seinem Ansinnen nach und entschied mich für eine Tagebuchform meiner Gedanken. Hier wir gehen:

© Meia 2005, Aus meinem Buch "Ich spreche fließend zynisch"

Unser freier Mitarbeiter, der alte Haudegen und dirty old man from Vorstadt Meia hat – wie wahrscheinlich so einige von Euch wissen – vor einiger Zeit schon fast nackt vor seinen Schöpfer treten müssen. Doch statt ins ewige Jenseits zu verschwinden ist er in das Reich der Stille eingetreten und muss sich nun mit ganz neuen Problemstellungen herumschlagen. So z.B. das für den gesunden Menschen selbstverständlich zu bestehende Abenteuer Kommunikation. Lest hier, welche Dinge ihm auf dem Weg zurück zu einem Stück Normalität widerfahren sind.


17.02.05

Heute ist ein großer Tag. Die erste Stunde des Kurses "Gebärdensprache für Anfänger" in der VHS Siegburg steht an. Was für mich als gesunder Mensch nichts Außergewöhnliches war und unter ferner liefen gebucht wurde, ist jetzt etwas Besonderes. Dank der Hilfe mir freundlich gesonnener Menschen muss ich mir wegen Transport und Erreichung der VHS keine Gedanken machen. Hiermit ist eine nicht zu unterschätzende Last von mir genommen.
Der Kurs findet im ersten Stock statt. Die Treppe dorthin ist in Folge meiner Gleichgewichtsstörungen eine wirkliche Hürde, die aber überwunden wird. Dem Lehrgang folgen neben mir zehn weitere Menschen, der Großteil weiblich. Außer mir sind nur zwei Teilnehmer männlichen Geschlechts. Die Dauer ist anderthalb Stunden, ohne Pause dazwischen. Die Dozentin ist selbst gehörlos, verlor ihr Gehör im Alter von zwei Jahren. Also hatte sie mehr Zeit als ich zu üben, während sie Gebärdensprache lernte, war das für mich kein Thema, denn ich hörte jahrzehntelang.
Am Anfang stehen die Grundlagen, diese sind grob gesagt Gesten die Wörter und ganze Sätze bilden können, zur Unterstützung dienen Mimik und Lautbildung mit den Lippen, Eigennamen werden mittels Fingeralphabet buchstabiert und vermittelt, man nennt dies "Fingern".
Das Ganze erinnert daran wie man sich einem Menschen anderer Sprache als Hörender verständlich macht. Zu frühes Erscheinen hatte die Folge einer Beobachtung des vorangegangenen Kurses für Fortgeschrittene. Mich beeindrucken die Ausdrucksformen dieser Sprache, die lautsprachenähnliche Kommunikation ermöglicht.


24.02.05

Zweite Unterrichtseinheit. Die Verantwortlichen der VHS haben gesehen, dass ich nicht so gut zu Fuß bin und deswegen den Kurs in das Erdgeschoss verlegt. Das kommt mir zugute.
Das Fingeralphabet beherrsche ich, alle einunddreißig Zeichen habe ich im Kopf. Die Dozentin verteilte zu Anfang zwar eine kleine Karte mit der Darstellung der einzelnen Buchstaben, aber da das Verstehen von Zeichnungen zum Teil eine Interpretationsfrage ist, besorgte ich mir eine zweite Anschauungsmöglichkeit aus dem Internet, ein gutes Vorgehen wie ich fand.
Obwohl ich mich nicht für geistig zurückgeblieben halte, in den letzten zwei Jahren recht schnell verstand wenn ich wusste worum es ging, habe ich Schwierigkeiten zu folgen. Die Ursachen sehe ich darin, dass ich noch nie ein besonderes Faible für Fremdsprachen hatte, meine fehlende Ahnung im Bereich nonverbale Kommunikation, sowie dass ich durch den Verlust des Hörens nicht in der Lage bin auf normale Kommunikation als Ausweichmittel zurückzugreifen.
Trotzdem bin ich guter Dinge, die Dozentin versteht sofort meine durch Fingeralphabet buchstabierten Worte, weiß was ich will und denke. Das freut mich, so wie immer wenn ich einem anderen Menschen den Inhalt meiner Gedanken erfolgreich verständlich machen kann. Zum Ende der Stunde verspüre ich extremen Drang zum Wasserlassen. Da die Herrentoilette im ersten Stock liegt erscheint ein Einnässen wahrscheinlicher als ein pünktliches Erreichen. Aufgrund des Notstandes kommt die Damentoilette in Frage. Interessant finde ich die automatische Suche der Augen nach einem Pissbecken, doch schnell wird mir klar, dass dieses an einem solchen Ort nicht zu erwarten ist. Das Projekt Blasenentleerung verläuft zufriedenstellend, ich verursache keine Flecken oder Verunreinigungen jedweder Art. Alle sind zufrieden.


03.03.05

Dritte Stunde des Kurses, wieder wird mir bewusst wie sehr ich auf das Hören fixiert bin, diese Fähigkeit die ich jahrzehntelang benutzt habe. Jetzt da die Augen die einzige Informationsquelle sind, bin ich auf Fehlerfreiheit der Gesten angewiesen, da mein kleines Gehirn mit der Zuordnung der richtigen Begriffe voll ausgelastet ist. Fehler erkenne ich nur in Ausnahmefällen, meist führen sie zu zusätzlicher Verwirrung. Trotzdem ist eine erste Konversation (euphemistisch, würde eher sagen gestikuliertes Brabbeln) möglich. Gebärdensprache reizt mich, ich möchte mehr können, bin zuversichtlich.
Nach Ende der Stunde wieder Damentoilette besucht, ebenso wieder nach einem Pissbecken gesucht. Kann und will nie eine Frau werden. Lieber eine Herrentoilette benutzen. Ja.
Der Fahrer verliert übrigens später am Abend seinen Führerschein. Aber da schlafe ich schon.


10.03.05

Nun sind einfache Formen und Gesichter Schwerpunkt. Es geht weniger um feststehende Gesten als um freie Beschreibungen, praktisch mehr ein Reden mit den Händen, die Füße bleiben unter dem Tisch und beschäftigungslos.
Für meine Verhältnisse halte ich mich gut, obwohl mir die Möglichkeit zur Zwischenfrage fehlt. Als alle nacheinander an die Flipchart müssen, will ich zuerst auch, dann bringt mir die Dozentin ein Blatt Papier. Offensichtlich ist zwischen dem überdimensionalen Notizblock und dem Lehrerpult nur Platz für einen aufrecht stehenden Menschen, nicht für einen Rollator.
Nach der Stunde fühle ich einen Wasserstand knapp bis zum Hals. Schon wieder auf die Damentoilette, diesmal auf Vorschlag einer Frau. Automatische Pissbeckensuche gelassen, als Frau fühle ich mich trotzdem nicht.


17.03.05

Mir fällt auf der einzige Gehörlose neben der Dozentin im Raum zu sein, alle anderen können hören. Da man wissen muss um was es geht, ist es kein Wunder, wenn ich aufgrund von Verständnislosigkeit den Faden verliere. Die Lehrerin hat jahrzehntelange Übung in Gebärdensprache, die Mitschüler hören und können sich gegenseitig helfen, ich bleibe außen vor.
Erneut die Damentoilette aufgesucht. Langsam gewöhne ich mich an die Nutzung einer Kabine zwecks Pissen. Mich beruhigt die Tatsache, dass diesem Regelbruch ein Notstand und nicht Übermut zugrunde liegt.
Nach der Stunde die gewohnten Schwierigkeiten des Alltags. Zu Hause ist der Fahrstuhl defekt, der Fahrer weg und auf mich wartet niemand. Ich stehe vor der Entscheidung entweder unter den Briefkästen die Nacht zu verbringen oder zu versuchen irgendwie die Treppe zu bewältigen. Entscheide mich für letzteres.
Der Aufstieg in die vierte Etage dauert deutlich länger als früher. Verständlich, da ich mich aufgrund der Gleichgewichtsstörungen mit einer Hand festhalten und mit der anderen den Ersatz für körperliche Sicherheit (Rollator) tragen muss. Aber ich schaffe es, auch wenn es mir wie Stunden vorkommt.


Schulferien…

Die VHS hat wegen Osterferien zwei Wochen geschlossen, die Stunden fallen aus. So sehr wie ich dies begrüße, so sehr bin ich doch erstaunt. Ferien sind meines Erachtens nur für Kinder wichtig und da kein Thema, wenn es um Erwachsenenbildung geht, finde ich das eher ärgerlich als vonnöten. Zeitverschwendung.


07.04.05

Sechste Unterrichtseinheit. Schwerpunkt Grammatik der Gebärdensprache. Diese ist ähnlich wie im Englischen und Japanischen, Namen und Bezeichnungen werden zuerst genannt, dann folgen Tätigkeiten. Tue mich ein wenig schwer damit, da ich kein Englisch oder Japanisch beherrsche. Verstehe es aber. Die kommunikative Isolation ist gravierender.
Nach dem Kurs wird die Toilette von zwei Teilnehmerinnen aufgesucht. Da diese umfangreichere Rechte besitzen warte ich draußen, obwohl mir das Wasser bis zum Hals steht. Einnässen unterdrückt, auch wenn dies einfacher wäre. Denke in der Wartezeit an Bettflaschen.


14.04.05

Neuer Versuch, neues Glück. Erneut Grammatik, Wiederholungen und Mimik. Gerade letzteres sorgt für Schwierigkeiten, denn bereits als Kind verinnerlichte ich möglichst keine Emotion zu zeigen. Aber es geht. Komme besser zurecht, kapiere wohl langsam die Grundlagen und beteilige mich verstärkt. Aber es bleibt schwierig, da fehlendes Hören Hilfestellung nicht fördert, optische Hilfsmittel nur rudimentär eingesetzt werden und der Unterricht in Gebärdensprache stattfindet. Assoziationen zu einem Buch mit dem Titel "So lerne ich lesen" wollen nicht weichen. Am Ende ein Lob von der Dozentin. Das motiviert mich. Damentoilette schon Teil meines Lebens. Hauptsache pissen. Zu Hause lese ich in dem Schmöker "TCP/IP in der Praxis". Damit sind keine Arztpraxen gemeint.


21.04.

Der achte Akt. Auffällig: Die Dozentin reicht einer Mitschülerin ein Buch aus dem sie einen Abschnitt vorlesen soll. Da ich dieses Buch nicht besitze und nicht Hören kann komme ich mir sehr isoliert vor. Es ist wie immer, wenn ich nicht weiß worum es geht bleibe ich außen vor. Ansonsten würde ich meine eigene Leistung bezüglich Verstehens als gut bezeichnen, merklich über dem Durchschnitt. Die Notwendigkeit von Mimik sehe ich ein, kein Thema, aber ich habe Schwierigkeiten Emotionen zu zeigen. Hieran muss ich arbeiten. Pinkeln wie immer, keine besonderen Vorkommnisse.


28.04.

Neunte Stunde. Hurra, zum letzten Male einstellig. Schon wieder vorlesen, ich nix verstehen, aber es ist der einzige Wermutstropfen in einer Unterrichtseinheit die ich ansonsten als gelungen bezeichnen würde. Knüpfe an die Leistungen der Vorwoche an, anscheinend ist der Groschen gefallen. Im Anschluss wieder Damentoilette, nehme sie als solche gar nicht mehr wahr, eher erscheint mir diese zunehmend als Oase in der Wüste.


12.05.

Wieder praktische Grammatikübungen. Ich weiß, dass diese am Anfang besonders schwierig sind, aber auch um die Nötigkeit ihrer, sie muss unbewusst und wie aus dem Effeff heraus beherrscht werden. Das Wichtigste jedoch ist, dass ich verstehe und mir nicht mehr wie ein überflüssiges Anhängsel vorkomme. Diesmal ist der Drang Wasser zu lassen weniger groß als sonst, diesmal sogar erster Stock, Herrenklo, diesmal sogar Pissbecken. Welch ungeahnter Luxus!


19.05

In der vorletzten Stunde geht es hauptsächlich um die Zeiten von Sätzen innerhalb der Grammatik der Gebärdensprache, eine wichtige Information wie ich finde, und die für das Verständnis vonnöten ist. Ich erfahre, dass Zeiten vor den Hauptwörtern genannt werden, zwar logisch wenn man sich mit Gesten ausdrücken muss, in Lautsprache würde sich ein korrekter Satz allerdings wie das Gebrabbel eines Irren einhören. Am Ende werden Karten gespielt, ein Gebärdenspiel das das Lernen fördert. Bei Beginn tue ich mich schwer, da ich außer Maumau kein Kartenspiel beherrsche, dann blicke ich durch und bin als erster fertig. Vorteil wenn man gewohnt ist zu schauen und versucht sich alles zu merken. Zum Abschluss wie immer Damentoilette, langsam ein vertrauter Ort, oder auch nicht, denn ich freue mich, dass ich diesen nur noch einmal aufsuchen muss.


02.06.

Das letzte Mal. Hauptsächlich Kartenspiele. Zwar ein nicht von der Hand zu weisender Lerneffekt, aber trotzdem will der Eindruck nicht weichen es in erster Linie mit einem Lückenfüller zu tun zu haben. Resümierend kann ich sagen, dass der Kurs für mich seinen Zweck erfüllt hat, die Grundlagen der Kommunikation mittels Gebärdensprache sind mir bekannt. Zwar kenne ich nur eine begrenzte Anzahl von Gebärden, aber diese lernt man automatisch durch praktische Übung. Hauptsache verstehen.
Nachher ein letztes Mal Damentoilette. Pinkel wie immer im Stehen, bin ich so gewöhnt. Nur nicht das schlechte Gewissen beim Pissen. Na ja, Finale. Damentoilette, ich werde dich nicht vermissen.

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