© Meia 2002, veröffentlicht in "Pankerknacker" 2007

“Please open your books...”

, sagte der Englischlehrer, ein kleinwüchsiger, sportlich wirkender Mann um die Dreißig - also deutlich jünger als ich - dessen Gesicht von einem immerwährenden, spöttischen Lächeln gekennzeichnet wurde. Natürlich verstand ich kein Wort, aber da ein Hauptwort dem meiner Muttersprache glich und am Verhalten meiner Mitschüler erkannte ich was gemeint war und handelte entsprechend. Ich glaube, ich hätte sein Anliegen auch verstanden, wenn er altassyrisch oder eine ähnliche tote Sprache benutzt hätte, eher noch als die kryptischen Silben, die er jetzt verwendete.
 Abgesehen von der Tatsache, dass nur selbsterworbene Bücher die Tische schmückten, uns keine ausgehändigt wurden und der Unterricht sich an Stapeln schnell kopierten Papiers orientierte, war sein Anliegen so absurd wie alles um mich herum. Ungeahnte Schwierigkeiten umgaben mich. Ich war älter als die meisten Lehrer, sämtliche Klassenkameraden hätten meine Kinder sein können und ihr pubertäres Gehabe ging mir gegen den Strich. Außerdem war ich mittels Aufzeigen um das Wort zu betteln nicht mehr gewohnt, denn wenn ich mich in der Vergangenheit einmal äußern wollte, pflegte ich frei, sofort und ohne vorhergehendes Ritual meine Meinung zu sagen. Zudem hatte ich das ständige analoge Schreiben per Hand im Laufe des praktischen Lebens verlernt und meine Langsamkeit hierbei brachte mich besonders bei Klassenarbeiten in Verzug, auch konnte ich nicht verstehen, dass meine Mitschüler in den Pausen automatisch einen Kreis bildeten und mit großen Worten Eindruck schinden wollten. Irgendwie eckte ich hier überall leicht an. Meine erste selbst geschriebene Entschuldigung hatte mich sofort zum Rektor geführt, obwohl ich mich im Text strikt an die Wahrheit gehalten hatte und die Ursache einer Verspätung mit nur kaum feststellbarer Polemik beschrieb und zu guter Letzt war ich der einzige ohne Auto und das frühe Aufstehen gefolgt von einer Zugfahrt und einem anschließenden Fußmarsch nervte mich und überhaupt war vormittags nicht meine Zeit, neue Dinge lernte ich lieber alleine, abends und mit Unterstützung einer Dose Bier.
 Eigentlich war alles Scheiße, aber ich hatte ein Ziel und wollte unbedingt diesen Beruf erlernen, koste es was es wolle, deshalb hielt ich durch, obwohl ich in den Pausen auf Fangenspielen verzichtete und lieber alleine blieb.
 Ich öffnete meinen kiloschweren Aktenordner, der aufgrund überquellendes Papiers das Aussehen eines Strandgut-Artefaktes, des einzigen Überlebenden einer Katastrophe angenommen hatte und harrte der Dinge.
 „Bitte rekonstruieren Sie ein Telefongespräch mit einem Kunden!“, sagte der Englischlehrer glücklicherweise verständlich und auf Deutsch, da die Länge des Satzes offenkundig auch ihn vor nicht erwarteten Problemen zurückschrecken ließ, „Bitte erarbeiten Sie dieses in Teamarbeit mit ihrem Nachbarn und schreiben Sie es auf.“
 Teamarbeit war nicht ganz mein Geschmack, da ich in der Schule wenig zu sagen pflegte und dieses nach der allgegenwärtigen Schauspielerei roch, ein weiteres Indiz dafür, dass der Unterricht wenig mit den Anforderungen der Praxis zu tun hatte. Lustlos wandte ich mich meinem Nachbarn zu. Er war älter als meine anderen Mitschüler, aber trotzdem mehr als zehn Jahre jünger als ich, gelernter Elektriker und neben mir der einzige Schüler in der Klasse welcher schon eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen konnte. Ich fragte mich im Geiste, wie ich mit meinen mickrigen Englischkenntnissen ein ganzes Gespräch in seiner vollen Länge, Breite und Höhe erfinden sollte. Englisch hielt ich sowieso für eine Phantasterei, da ich im beruflichen Leben keine Anwendungsmöglichkeit dafür finden konnte. Jugoslawisch wäre da angebrachter und passender gewesen, dennoch reichten die wenigen selbsterfragten und aufgeschnappten Brocken dieser Fremdsprache aus, um einen Arbeitskollegen zu beschimpfen oder um ein Bier zu bestellen. Das nötigste war also auch auf jugoslawisch zu bewältigen.
 Zum Glück war mein Gegenüber noch schlechter in Fremdsprachen als ich, zeigte sich noch weniger talentiert dazu mit fremden Zungen zu reden, was bei einem Elektriker auch nichts Besonderes oder Schlechtes war. Ich bewertete diese Tatsache als einen Glücksfall, da ich mit unnötiger Kritik und unpassendem Genörgel nicht zu rechnen brauchte.
 „Du machst den Verkäufer, ich den Kunden…“ begann er enthusiastisch.
 „Hello!“
 „Tach…“, antwortete ich, wie ich es gewohnt war.
 „I wanna buy a grafikcard!“
 Ich brach das Gespräch mit einer kurzen Geste ab.
 „Ich hab aufgelegt“, erklärte ich den Sachverhalt.
 „So geht das aber nicht…“, protestierte er, „du musst schon weitermachen!“
 Schweren Herzens sah ich dies ein, obwohl nur ich ein Beispiel aus der Praxis eingearbeitet hatte, das die Idiotie dieses Vorhabens unterstreichen sollte. In der Realität pflegte ich sogar angeohr von Schwyzerdütsch oder sonstigen unverständlichen Gerede direkt aufzulegen.
 „Wi hähf Matrox, S3, Nvidia, Ati, Creative…“, zählte ich alle mir bekannten Typen von Grafikkarten auf, um überhaupt etwas zu sagen zu haben.
 „And what kind of card you propose?“
  Offensichtlich konnte der Elektriker doch besser Englisch als ich dachte, jedenfalls besser als ich, denn der Sinn der Worte blieb mir im Dunkeln.
 „Dirty fucker!“, antwortete ich, da mir nichts anderes einfiel. In der Praxis war diese Äußerung sehr erfolgreich um erste Kontaktschranken zu überwinden, beim Fußball fand man so immer sofort Kontakt zu Engländern, wurde also verstanden, und nachdem die ersten kommunikativen Hemmnisse beseitigt waren, der Austausch funktionierte, konnte die Diskussion unter Anwendung eher körpersprachlicher Mittel weitergeführt werden.
 „And what kind of card you propose?“
 Mein Gegenüber verhielt sich anders als alle Engländer die mir bisher begegnet waren, was wohl daran lag, dass es sich hierbei nicht um einen richtigen Engländer handelte. Also musste etwas anderes ersonnen werden.
 „Ei hähf Nvidia. Ju kän pläh games wisch diesem Motherfucker. The chipsatz is väri gut.“, antwortete ich stolz angesichts der Tatsache, einen ersten, fastenglischen Satz präsentieren zu können.
 „Propose?“, fragte er. Dieser Patient neigte offensichtlich zu ständigem Gequatsche und fragte mir langsam Löcher in den Bauch. Außerdem kam ich mir wie ein Angestellter des Turmbaus zu Babel vor und zusätzlich war ich die überhandnehmende Analogschreiberei ziemlich leid, fühlte mich wie der Teilnehmer einer Klassenarbeit und wäre lieber irgendwo anders gewesen.
 Ein metallischer Gong erklang aus einem verborgen an der Decke angebrachten und viel zu laut eingestellten Lautsprecher, erinnerte an die Sprecherin des Büros, die zu jedem Pausenanfang jeden Tag den gleichen Text in ein Mikrophon brüllte, so laut als ob es galt, auch ohne elektronische Verstärkung auf allen Kontinenten hörbar zu sein und dadurch jegliche Kommunikation erfolgreich erstickte. Der Klang übertönte die wild durcheinander redende Schülerschar für einige Sekunden und kündete vom Ende der ersten Hälfte einer Doppelstunde und ich war froh, bis hierhin überlebt zu haben, wünschte die nächste Pause und damit den langsamen Genuss einer Zigarette sehnlich herbei. Überhaupt waren die meisten Schulstunden eher eine Qual als eine Bereicherung. In Wirtschaftslehre erfuhr ich sattbekannte Fakten, die das Leben ganz anders schrieb und in Deutsch (hier erreichte ich das Klassenziel nur durch eine wackelige Vier, die Richtung Fünf tendierte) sagte ich aus Prinzip gar nichts, empfand die Ausführungen und das ewige Drängeln auf Teamarbeit als besonders realitätsverachtend und sehnte die wenigen Stunden in denen versucht wurde fachliches Wissen zu vermitteln wegen ihres Sinnes förmlich herbei. Aber die meisten Probleme führte ich auf mein Alter zurück und beschwerte mich deswegen nicht. Der Unterricht war aus gutem Grund auf die Bedürfnisse von Zwanzigjährigen zugeschnitten und in diesem Alter war ich auch noch erwartungshungriger und unerfahrener. Allen Stunden gemein war das drohende Schwert der Präsentation, angelehnt an die Abschlußprüfung und beim täglichen Biererwerb nicht gefragt, da diese zuviel Zeit kostete und kein Kunde so etwas erwartete bzw. dafür zahlen wollte. Aber ich hatte noch Glück gehabt. Mit Entsetzen registrierte ich am ersten Tag die Tatsache, dass diese Schule sogar einen eigenen Religionsraum besaß, ein Entsetzen, das bald freudiger Erwartung wich, bot Unterricht dieser Art doch eine hervorragende Plattform zum Pöbeln und dieses eher negative Verhalten wurde noch als „besonders rege teilgenommen“ verzeichnet, was einer guten Note glich. In dieser Hinsicht war es natürlich Schade keinen Religionsunterricht zu haben. Genauso entsetzt nahm ich die Information zur Kenntnis, dass die Berufsschulklasse nur einen Jahrgang vor mir sogar zum Sportunterricht gezwungen wurde. Ich nahm mir felsenfest vor, in solch einem Falle mir eine besonders aufregende Geschichte auszudenken und damit meinen Hausarzt zu beglücken, damit ich, um erfolgreich von Leibesübungen befreit, meine Zeit lieber vor einem Computer verbringen konnte anstatt dem Körper neue Verrenkungen beizubringen.
 „Propose???“, fragte der Elektriker ungeduldig, da ich minutenlang geschwiegen hatte.
 Telefonieren behagte mir auch mit Telefon nicht, ohne fehlte die richtige Würze, ja wirkte es fast schon fad, auf ein für dieses Vorhaben unverzichtbares Werkzeug nicht zurückgreifen zu können. Wenn zusätzlich noch eine Fremdsprache ins Spiel kam, sank meine Motivation unter den Nullpunkt und auch in diesem Falle fühlte ich mich als würde ich vor einem kalten Ofen hocken.
 „Ach freu dich doch….“, maulte ich mürrisch und dachte an eine Zigarette.
 „I wanna buy a grafikcard…“, sagte der Elektriker erneut, diesmal etwas verhaltener als vorher.
 Trotzdem nervte mich das ständige Gerede, wie so vieles andere auch.
 „You bloody wanker, I do not want to buy a diagram map....son of a bitch...fool of crap...dauernd hear I the same song will slowly boringly first of all sell I motherfucking diagram maps separate install this more Dinger at the most and secondly want I a Cigarette to rather smoke in addition have I no more desire on the stupiden play want to only hope the this shit-train am thereby I thereafter a beer soon past to drink can, Motherfucker, at home at the Computer to something kill practice and then finally further-sleep and this evening go I into the Tavern and get drunk in addition need correctly. I do not motherfucking English, may not anyway talk....“, entfuhr es mir und ich schrieb eifrig mit.
 Eigentlich war ich froh, etwas zu Papier bringen zu können und das Verkaufsgespräch erfolgreich abzuschließen, obwohl mein Mund ganz trocken war, denn ich konnte mich nicht erinnern wann es das letzte mal gewesen war, dass ich soviel redete, meine Ausführungen fast schon Buchlänge erreichten. Um den Flüssigkeitshaushalt neu einzupegeln, stand ein Getränk auf dem Plan, ich entschied mich hierbei für Kaffee, da dieser zusätzlich eine aufputschende Wirkung versprach, doch dieses Vorhaben hatte noch etwas Zeit und konnte bis zur endgültigen Ausführung in der nächsten Pause warten.
 Der Elektriker schwieg zufrieden und malte ebenfalls Zeichen auf das Papier.
 „So, die Zeit ist um….“, meldete der Englischlehrer sich zurück und beendete so mein Martyrium. Beim Anblick seiner Person dachte ich für einen Moment an die Tatsache, dass ich diese Schule schon einmal besucht hatte, vor circa dreiundzwanzig Jahren, zu einer Zeit also an dem der Mensch der mich nun unterrichtete und mir etwas Neues beibringen sollte, wohl gerade damit beschäftigt war, die Grundschule zu wiederholen, viel zu jung also um selbst zu unterrichten. Damals besuchte ich eine Klasse für Jungarbeiter, war aber nur am ersten Unterrichtstag anwesend, dann reichte es mir und ich befreite mich selbst vom Schulzwang, verbrachte meine Zeit lieber in der Bahnhofsgastsstätte einer Nachbarstadt. Obwohl ich dies als sinnvoll ansah, beschwerte sich die Schule beim Arbeitgeber und eine Kündigung erfolgte…. aber dies ist eine andere Geschichte.
 „Scheinbar hat sich hier seitdem nicht allzu viel verändert… Hach, wie gerne wäre ich jetzt in einer Bahnhofskneipe...“, schloss ich meinen Rückblick ab und beendete die sehnsüchtigen Gedanken.
 „Schreibt bitte euren Namen auf das Blatt, ich sammle diese dann ein und bewerte eure Ausführungen bis nächste Woche...“
 Während ich meine technischen Daten auf ein spärlich gefülltes Blatt schrieb, dessen sonstiger Inhalt eher der Schilderung eines obszönen Anrufs denn dem eines Verkaufgespräches glich, erschien mir sogar die Aussicht auf eine schlechte Bewertung desselben als ziemlich belanglos, drehte sich mein gesamtes Denken doch nur um den Genuss einer Zigarette und den damit verbundenen Freuden.
 Das Blatt wurde mir aus der Hand gerissen, eine weitere schlechte Note schwebte Richtung Lehrerpult, aber das war mir egal.
 „I wanna tell you some Stories…“, sagte der Englischlehrer einige Minuten später, ich wusste, dass die Stunde noch nicht vorbei war und die zwei Zigaretten (aus einer waren mittlerweile zwei geworden) näher rückten, wenn auch noch nicht ganz erreicht waren.
 „This is Tom and this is Mary. Tom is…“
 „Tom is a Motherfucker…“, vollendete ich den Satz in Gedanken und freute mich auf die Pause.
 Es konnte sich nur noch um Minuten handeln.

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